Stuttgart: „Iphigenie en Tauride“

Besuchte Aufführung: 8.2.2020 (Premiere: 28.4.2019)

Traumata einer Altersheimbewohnerin / Theater der Erinnerung

Nun steht sie wieder auf dem Stuttgarter Spielplan: Krzysztof Warlikowski s ursprünglich für die Pariser Oper entwickelte geniale Inszenierung von Glucks Iphigénie en Tauride. Und wieder war der Eindruck der Produktion gewaltig. Warlikowski hat hier wahrlich ganze Arbeit geleistet. Gekonnt lässt er mehrere Ebenen aufeinanderprallen und eine gelungene Einheit bilden. Iphigénie ist die letzte Überlebende der Familie der Atriden. Das Einheitsbühnenbild stellt ein Altersheim dar, in dem die alte Iphigénie Zuflucht gefunden hat und wo sie nun mit zahlreichen anderen bereits stark in die Jahre gekommenen Heimbewohnerinnen ihr Dasein fristet. Der nach hinten geöffnete Raum wirkt ziemlich marode. Auf der linken Seite hat Bühnenbildnerin Matgorzata Szczesniak, die auch für die gelungenen Kostüme verantwortlich ist, einige Duschen installiert. Die gegenüberliegende Seite wird von einer Reihe von Waschbecken eingenommen. Darüber hinaus sieht man ein Sofa, einen Tisch und mehrere Stühle. An der Decke hängen einige Ventilatoren. Im Vordergrund erschließen sich dem Blick drei Betten. Eine weitere Liegestatt dient Iphigénie im dritten Akt als Ruhestätte. Der Hintergrund wird von einem stählernen Rolltor eingenommen. Es ist schon ein äußerst trostloses Ambiente, in dem sich die Geschichte um die Atriden-Tochter, die in Tauris ihrem Bruder Orest begegnet, abspielt.

Renate Jett (alte Iphigénie), junge Iphigénie

Warlikowski ist nicht das Geringste anzulasten. Hier haben wir es mit einem Regisseur zu tun, der sein Handwerk versteht. Seine Personenführung ist ausgefeilt, spannend und abwechslungsreich. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden von ihm einfühlsam aufgezeigt. Auf Tschechow’sche Elemente versteht er sich ebenfalls trefflich. Häufig sind Personen auf der Bühne, für die Gluck an dieser Stelle überhaupt keinen Auftritt vorgesehen hat. Wenn er im vierten Akt den Zuschauerraum in seine Interpretation mit einbezieht und einige Szenen im ersten Rang des Stuttgarter Opernhauses spielen lässt, wird offenkundig, dass er auch Bertolt Brecht sehr zugetan ist. Pylades tötet den an den Rollstuhl gefesselten, lädierten und tätowierten Thoas in der rechten Seitenloge. Die Göttin Diana und den Chor lässt der Regisseur aus dem Orchestergraben singen. An die Stelle der taurischen Priesterinnen treten die von betagten Statistinnen verkörperten Bewohnerinnen des Altenheimes. Im Programmbuch kann man die Biographien dieser Stuttgarter Damen nachlesen. Deutlich wird, dass zwischen ihnen und Glucks Oper Ähnlichkeiten bestehen. Einfühlsam thematisiert Warlikowski das echte Alter und das Alleinsein dieser alten Frauen. Am Ende des zweiten Aktes lässt er sie auch mal Kuchen essen. Zudem wird die Bühne von einer riesigen Spiegelwand geprägt, die die Befindlichkeiten der Handlungsträger reflektiert und das Geschehen trefflich in unsere Gegenwart transferiert. Wenn sich das Auditorium auf diese Weise selbst erblickt, wird ihm vom Regisseur zudem der sprichwörtliche Spiegel vorgehalten.

Orest, Pylades, Thoas, Statisterie

In diesem heruntergekommenen Altenheim begegnet die von der Schauspielerin Renate Jett eindrucksvoll dargestellte alte Iphigénie ihrem jüngeren Ich, der von einer Sängerin verkörperten Priesterin auf Tauris. Sie hält eine Rückschau, in deren Verlauf längst vergangene Erinnerungen und noch nicht überwundene Traumen wieder in ihr aufsteigen. Hier lässt Warlikowski einen gehörigen Schuss Sigmund Freud, mit dessen bahnbrechenden Erkenntnissen er gut vertraut zu sein scheint, in seine Deutung einfließen. Behände arbeitet er die einzelnen psychologischen Schichten heraus und dringt tief in die Psyche der Protagonisten vor. Das Unterbewusstsein der beteiligten Personen wird von ihm famos beleuchtet und vor den Augen des Publikums ausgebreitet. Dabei kommt es immer wieder zu einer Überlappung der unterschiedlichen Erzählstränge. Einen besonders starken Eindruck macht das Bild, in dem Iphigénie ihre in gleicher Weise von Statisten verkörperte Familie heraufbeschwört. Der Zuschauer wird Zeuge wie der splitternackte Statisten-Orest seine Mutter Klytaimnestra tötet. Was sich hier auf so eindringliche Weise dem Auge des Zuschauers erschließt, ist gleichsam ein Theater der Erinnerung. Hier hat Warlikowski wahrlich Phantastisches geleistet.

Iphigénie

In erster Linie bleibt Warlikowskis meisterhafte Zeichnung der Beziehung von Iphigénie und Orest in Erinnerung. Die Geschwister leben in einer Schicksalsgemeinschaft und leiden beide unter ausgeprägten Traumen. Der nackte Statisten-Orest, der im zweiten Akt auftaucht, ist als dem Rasen der Erinnyen schutzlos ausgeliefertes Alter Ego des echten Orest zu verstehen. Nachhaltig stellt die Regie die Frage, ob die schlimmen Traumen von Iphigénie und Orest heilbar sind. Die Antwort lautet ja. Wenn Warlikowski sich dabei erneut mit Freud’schem Gedankengut wie Vergessen und Verdrängen auseinandersetzt, ist das recht überzeugend. Dennoch setzt er hinter das von Gluck vorgesehene Happy End ein großes Fragezeichen und lässt die Geschichte tragisch enden. Am Schluss positioniert er Orest und Pylades in der Königsloge des ersten Ranges. Dieser Einfall ist mehrfach deutbar: Die junge Iphigénie hat ihren eben erst vom Tode geretteten Bruder am Ende doch noch verloren. Sie bleibt allein. Und die alte Iphigénie blickt weit in vergangene Zeiten zurück. In ihrer Erinnerung erschließt sich ihr noch einmal das ferne Bild der Menschen, die sie einmal geliebt hat. Zum Schluss stirbt sie. Mit ihrem Tod ist das Geschlecht der Atriden gänzlich erloschen. Das war alles sehr stimmig. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag bei Rebecca Bienek.

Iphigénie

Joyce El-Khoury zeigte sich als Iphigénie stimmlich zu Beginn noch nicht auf der vollen Höhe. Im Verlauf des Abends vermochte sie sich aber zu steigern und wartete mit einer durchaus soliden Leistung auf. Gut gefiel Johannes Kammler, der mit kraftvollem, gut fokussiertem und ausdrucksstarkem Bariton einen eindrucksvollen Orest sang. Neben ihm fiel Mingjie Lei in der Partie des Pylades mit dünnem Tenor, dem es erheblich an der nötigen Körperverankerung mangelte, deutlich ab. Einen robusten, durchschlagskräfitgen und imposanten Bariton brachte Michael Mayes für den Thoas mit. Ordentlich klang Carina Schmieger in den Rollen von Diana, der Griechin und der Priesterin. Der Aufseher des Thoas und der Skythe waren mit dem flach singenden Elliott Carlton Hines nur mittelmäßig besetzt. Wie immer hervorragend präsentierte sich der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart. Einen guten Eindruck hinterließen die Statistinnen, die die Bewohnerinnen des Altenheims darstellten.

Orest, Iphigénie, Statisterie

Gut gefiel Christopher Moulds am Pult. Zusammen mit dem versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart lotete er die unterschiedlichen Schichten von Glucks Musik trefflich aus und brachte die verschiedenen Elemente der Partitur gekonnt an die Oberfläche. Insbesondere die recht getragenen, emotionalen Phrasen vermochten zu gefallen, aber auch bei den dramatischen Passagen zeigten sich Dirigent und Orchester ganz in ihrem Element.

Fazit: Eine meisterhafte Inszenierung, die den Besuch voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 9.2.2020

Die Bilder stammen von Martin Sigmund