An der Staatsoper Stuttgart ist seit einiger Zeit Calixto Bietos in dem Bühnenbild von Susanne Gschwender und den Kostümen von Mercè Paloma spielende Inszenierung von Wagners Parsifal wieder zu erleben. Obwohl sie bereits aus dem Jahr 2010 stammt, hat diese bemerkenswerte Produktion nichts von ihrer großen Kraft und Intensität eingebüßt. Bieito ist wahrlich eine atemberaubende, spannende und atmosphärisch dichte Regiearbeit zu bescheinigen, die er gekonnt mit Brecht‘ schem Gedankengut und vielfältigen Tschechow‘ schen Elementen garniert.

Bieito lässt sich bei seiner beachtlichen Interpretation des Wagner‘schen Bühnenweihfestspiels von Cormac McCarthys Roman Die Straße inspirieren. Weihevoll mutet die Produktion nicht an. Vielmehr wird sie von knallhartem Realismus geprägt. Das eine düstere Endzeitstimmung vermittelnde Bühnenbild ist in diffuses graues Licht getaucht. Gleich zu Beginn fällt der Blick auf eine zerstörte Welt, gleichsam eine postapokalyptische Landschaft, die von der Ruine einer Brücke, Sinnbild eines zerstörten Weges, dominiert wird. Im dritten Aufzug ist sie eingestürzt. Die Bäume sind verkohlt und die Luft ist auf eine Weise verpestet, dass einige der Handlungsträger sogar auf Sauerstoffmasken angewiesen sind. Es hat den Anschein, als ob die Menschen erst vor kurzer Zeit von einer großen Katastrophe heimgesucht worden sind. Nun haben sie sich in die Trümmer ihrer einstigen Zivilisation zurückgezogen und suchen nach neuen Werten. Verzweifelt klammern sie sich an nicht wirklich religiöse Rituale, die ihnen beim Schöpfen neuer Kraft behilflich sein sollen. Mit dem Christentum hat Bieitos Konzeption gar nichts zu tun. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass das voll und ganz Wagners Intention entspricht, der einmal gegenüber Cosima bekannte: An den Heiland habe ich dabei gar nicht gedacht.
Nicht an äußeren Blessuren hat die Gesellschaft hier zu leiden, sondern vielmehr an inneren Verletzungen. Diese sind Folge eines Verlustes des Glaubens. Das gilt zuvorderst für den Shakespeares König Lear nachempfundenen Amfortas. Ihn quält eine ausgemachte Glaubenskrise, die schuld daran ist, dass er den für die Gemeinschaft lebenswichtigen Ritus des Liebesmahls nicht mehr vollziehen kann. Seine starken Schmerzensausbrüche vermögen die in ihrem Verlangen nach Labung unerbittlichen, aus Löchern im Erdboden kriechenden und sehr hässlich gewandeten Überlebenden des Infernos in keinster Weise zu beeindrucken. Die Mahnungen des in die Jahre gekommenen, blind durch die Reihen seiner Anhänger wandelnden ehemaligen Anführers Titurel sind zuerst nicht von Erfolg gekrönt. Der vereinigten Kraft der hier versammelten deprimierten Menschen, die fordernd Plakate und Verkehrsschilder mit Aufschriften wie Wo ist Gott?, Führe mich, Leite mich, Erleuchte mich, Erbarme dich, Rette mich und Schütze mich in verschiedenen Sprachen in die Höhe halten, kann Amfortas letztlich nichts mehr entgegensetzen und entspricht ihrem Verlangen. Wenn die Gemeinschaft die zahlreich vom Schnürboden herabschwebenden rituellen Gegenstände aus unterschiedlichen Weltreligionen ungestüm an sich reißt, wird klar ersichtlich, wie sehr sie sich nach einem spirituellen Halt sehnt.

Erscheinungsformen aus allen möglichen Religionen werden hier ziemlich krass vorgeführt. Aber auch konventionelle Grale in Gestalt von Kelchen sind darunter. Einen davon hebt Parsifal verständnislos in die Höhe. Wenn er sich im dritten Aufzug gleich einem Weihnachtsbaum mit den Begierden und Sehnsüchten seiner Mitmenschen in Form von allen möglichen Heilsinsignien schmücken lässt, mutiert er gleichsam zu einem mit Engelsflügeln versehenen persiflierten Christus. Dergestalt wird das Ganze etwas ins Kitschige und Lächerliche gezogen. Aber das ist von Bieito sicher beabsichtigt. Diese Persiflage auf die Religion offenbart, dass es hier nicht um die Abhandlung von Glaubensfragen geht. Den Focus legt der Regisseur vielmehr auf reine Theatralität. Aus diesem Grund sucht man in dieser Inszenierung einen konkreten gegenständlichen Gral auch vergebens. Dieser ist vielmehr geistiger Natur und als die jeden von den desolaten Verhältnissen Betroffenen beschäftigende Frage aufzufassen, ob es überhaupt eine Erlösung gibt. Diese mündet in eine zu guter Letzt vergeblich bleibende Sinnsuche. Ein Erfolg stellt sich nicht ein, weil die Zerstörung der Welt unaufhaltsam ihren Fortgang nimmt. Diese Tatsache hat immer fragwürdigere Verhaltensmuster zur Folge.
Die Mitglieder der Gralsgemeinde haben unter mannigfaltigen, auch sinnlichen Entbehrungen zu leiden und werden darob zunehmend aggressiv und gewalttätig. Chaos breitet sich aus. Negation gebiert Anarchie als eine neue Form des Daseins. Damit wären wir bei Artaud und seinem Theater der Grausamkeit angelangt, das eine Situation des Nicht-Seins formuliert und verständlicherweise zudem surrealistische Elemente enthält. Zorn und Hass der Menschen auf eine unfähige Führungsschicht machen sogar vor Titurel nicht halt. Es ist eines der stärksten Bilder der Produktion, wenn die aufständischen und sehr brutal gewordenen Mitglieder der Gesellschaft den völlig nackt umherschweifenden, wahnsinnig gewordenen und immer wieder das Wort Erlösung faselnden alten Anführer Titurel grausam mit einem Beil ins Jenseits befördern und seine Leiche in einer Zink-Badewanne seinem Sohn Amfortas vorführen. Mit äußester Drastik zeigt der Regisseur hier auf, wie ein vormals hochmoralischer Männerorden unaufhaltsam seiner hehren Werte verlustig geht und zu einer kriminellen Sekte mutiert. An die Stelle von Nächstenliebe treten menschenverachtende Unbarmherzigkeit und Respektlosigkeit. Der Weg zur Erlösung ist der Grals-Gemeinde mithin verstellt. Nachhaltig offenbart sich, was für fürchterliche Folgen es haben kann, wenn gewaltsam unterdrückte Triebe auf einmal explosionsartig aus dem Inneren des Menschen hervorbrechen und ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Hier erweist Bieito stark Sigmund Freud seine aufrichtige Reverenz. Meisterhaft integriert er die bahnbrechenden Erkenntnisse des berühmten Psychoanalytikers über die Gefahren der Triebunterdrückung in sein überzeugendes Konzept. Zum äußeren Geschehen gesellt sich somit noch eine innere Handlung, die in der Seele der Handlungsträger verankert ist und dem Regisseur die Grundlage für eine tiefschürfende Psychoanalyse der beteiligten Personen eröffnet. Deren Handlungen sind dabei häufig weniger realer als vielmehr geistiger Natur.

Die Amtsmüdigkeit von Amfortas fällt in gleicher Weise in diese Kategorie wie die ebenfalls an Artaud gemahnenden rohen Gewaltphantasien des im dritten Aufzug anscheinend blind gewordenen Priesters Gurnemanz – er wird als Manipulator für die Instrumentalisierung der Spiritualität gedeutet – gegenüber einem Engelskind. Damit stellt Bieito die zur Zeit der Entwicklung seines Regieansatzes gerade bekannt gewordenen Missbrauchsvorwürfe gegen die katholische Kirche gnadenlos an den Pranger. Auch Gurnemanz hat offenbar maliziöse Seiten. Der kleine Junge wird dann als Symbol der Reinheit für den hier unsichtbar bleibenden Schwan von Parsifal erschossen. Darauf konfrontiert Gurnemanz den reinen Toren anstelle des Schwans mit dem toten Körper des Knaben. Durch diese Zuschiebung der Schuld stellt er die moralische Reife von Parsifal nachhaltig auf die Probe. Als sich diese als noch nicht ausgereift erweist, wird dem Titelhelden von dem enttäuschten Gurnemanz das Wort Erlösung auf die Brust tätowiert.
Das einleitende Bild ist gleichfalls psychisch aufzufassen. Der während des von Bieito ausinszenierten Vorspiels splitternackt über die Bühne spazierenden Schwangeren kommt nicht nur die Bedeutung eines Sinnbildes für das Leben überhaupt zu. Ebenso ist diese gänzlich unbekleidete Frau als Sehnsucht der in zahlreichen Reinkarnationen durch die Zeiten wandernden Kundry nach Mutterglück aufzufassen. Dieser Wunsch wird ihr schließlich erfüllt. Im dritten Aufzug ist sie, nachdem sie sich selbst die Zunge herausgeschnitten hat, schwanger. Man weiß aber nicht, von wem. Von Parsifal, dem sie weniger als Verführerin, sondern eher als Muttergestalt begegnet, eher nicht. Das Prinzip Hoffnung, um es mal mit Ernst Bloch zu sagen, wird von ihr unbeirrt durch immer wiederkehrendes Leben in eine neue Ära transportiert, mag die aktuelle Welt auch noch so sehr in Trümmern liegen. Ihre Beziehung zu Klingsor wird von einer eigenartigen Art von Hassliebe geprägt. Das Bild, in dem sie ihm höhnisch die Hose herunterzieht, beleuchtet ihre innere Zerrissenheit. Bieitos Sicht von Klingsor, der von seinen Trieben gequält ebenfalls nach Erlösung trachtet und am Ende des zweiten Aufzuges von Parsifal getötet wird, ist gleichfalls stark von Freud‘ schem Gedankengut geprägt. Er bereut aufs Tiefste, sich selbst entmannt zu haben, und versucht immens deprimiert, seine alte Manneskraft zurückzuerhalten. Seine diesbezüglichen Anstrengungen sind indes zum Scheitern verurteilt. Sein Neid auf alle unversehrten Geschöpfe nimmt immer stärkere Formen an. Insbesondere die in Zellophan gekleideten Blumenmädchen sind seiner Grausamkeit am stärksten ausgesetzt. Ihr an Parsifal gerichteter Hilferuf wird von dem noch unreifen Helden nicht vernommen. Seinem erwachenden Geschlechtstrieb räumt er den Vorrang ein. Er entkleidet ein blutüberströmtes Mädchen völlig und erkundet neugierig ihre erogenen Zonen. Wenig später ersticht er ein weiteres. Erst am Ende vermag der reine Tor den Bann zu brechen. Er opfert seinen Leib und sein Blut gleichsam dem neu initiierten Liebesmahl und lässt sich in derselben Zinkbadewanne, aus der sich kurze Zeit zuvor der tote Titurel auf einmal unverhofft wieder erhoben hatte, in Unterwäsche von der Bühne tragen. Sicher war es eine harte Kost, die dem Publikum da präsentiert wurde. Wer sich aber vorbehaltlos auf Bieitos Ansatzpunkt einließ, wurde mit einem hochspannenden, innovativen und von einer stringenten Personenregie geprägten Abend belohnt. Daran hatte sicher auch Sophia Binder, die szenische Leiterin der Wiederaufnahme, ihren Anteil.
Am Pult wies GMD Cornelius Meister dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart trefflich den Weg durch Wagners abwechslungsreiche Partitur. Er fasste das Werk durchweg als Weihespiel auf und schlug demgemäß teilweise recht langsame Tempi an. An Spannung fehlte es seinem sehr gefühlvollen und von vielen leisen, verhaltenen Tönen geprägten Dirigat indes an keiner Stelle. Auch an der Transparenz des Klangbildes gab es nichts auszusetzen.

Nun zu den gesanglichen Leistungen: Samuel Sakker sang mit großer Intensität einen soliden Parsifal, den er auch überzeugend spielte. Darstellerisch ebenfalls sehr gewandt gab Rosie Aldridge die Kundry, die sie mit pastosem, gut gestütztem Mezzosopran und sicheren Spitzentönen auch ansprechend sang. Als Gurnemanz war Kwangchul Youn für den erkrankten David Steffens eingesprungen und bestach durch die sonore Klangfülle seines hervorragend italienisch geschulten Basses sowie ein schönes Legato. Leider geriet er im dritten Aufzug kurz vor Beginn des Karfreitagszaubers wohl aufgrund Meisters langsamer Tempi etwas in Schwierigkeiten. Er konnte eine Phrase nicht auf einem Atem durchsingen, sondern musste sich auf einem Klinger ausruhen und dann noch einmal atmen, um das hohe ‚e‘ zu erreichen. Pawel Konik verlieh dem Amfortas mit angenehmem, voll und rund klingendem Bariton packende vokale Konturen. Shigeo Ishino war ein ebenfalls mit vorbildlicher italienischer Technik singender, wohltönender Klingsor. Einen sehr mächtig und fulminant wirkenden Bass brachte Peter Lobert in die kleine Partie des Titurel ein. Von ihm hätte man gerne mehr gehört. Im dritten Akt ließ er sich von Ralf Borchers doubeln. Von den beiden Gralsrittern gefiel der klangvoll intonierende Bassist Aleksander Myrling besser als der stimmlich nicht mehr taufrische Tenor Heinz Göhrig. Alma Ruoqi Sun und Catriona Smith bewährten sich als Erster und Zweiter Knappe. Dagegen klangen die maskigen Tenöre von Torsten Hofmann (Dritter Knappe) und Sam Harris (Vierter Knappe) weniger gut. Frau Sun befand sich auch in dem Ensemble der ordentlich klingenden Blumenmädchen, der außer ihr noch Claudia Muschio, Natasha Te Rupe Wilson, Carmen Larios Caparros, Lucia Tumminelli und Itzeli del Rosario (auch Stimme aus der Höhe) angehörten. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart sowie der Extrachor und Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.
Fazit: Ein grandioses, aufregendes und spannungsgeladenes Stück Musiktheater mit hohem intellektuellem Anspruch, dessen Besuch sehr zu empfehlen ist!
Ludwig Steinbach, 14. April 2025
Parsifal
Richard Wagner
Staatsoper Stuttgart
Besuchte Aufführung: 13. April 2025
Premiere: 28. März 2010
Inszenierung: Calixto Bieito
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart