Stuttgart: „Rigoletto“, Giuseppe Verdi

Seit einiger Zeit steht Jossi Wielers und Sergio Morabitos bereits aus dem Jahr 2015 stammende Produktion von Verdis Rigoletto wieder auf dem Spielplan der Stuttgarter Staatsoper. Das ist erfreulich, denn hier handelt es sich um eine der besten Inszenierungen des Werkes. Das bewährte Regie-Duo hat es ausgezeichnet verstanden, die Oper einerseits in einen gänzlich neuen Kontext zu stellen, andererseits aber dem originalen Subtext des Werkes voll und ganz Rechnung zu tragen. Mit ihrer gelungenen Regiearbeit sind sie näher an dem Stück geblieben, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ihre Interpretation entspricht völlig Verdis Intentionen. Insbesondere die innere Handlung haben Wieler und Morabito ausgesprochen ernstgenommen und nirgendwo angetastet. Darüber hinaus zeichnete sich ihre Interpretation durch eine famose Verquickung von tragischen mit heiteren Momenten aus. Das trug viel zur Kurzweiligkeit der Aufführung bei. Dieser Punkt bildete ein Hauptanliegen der beiden Regisseure, die das Libretto und seine Rezeption äußerst gewissenhaft unter die analytische Lupe genommen haben.

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Die stringente Personenregie war ebenfalls meisterhaft. Das betraf nicht nur die Solisten, sondern in verstärktem Maße auch den Chor. Dieser wird von Wieler und Morabito nicht als einheitliches Kollektiv gedeutet, sondern in eine Vielzahl einzelner Individuen mit unterschiedlichen Charakteren aufgespalten. Unter den von Nina von Mechow mit schwarzen Gewändern ausgestatteten Höflingen erkennt man einige, deren ausgeprägte Niedertracht von vornherein ins Auge sticht. Dabei gibt es aber auch solche, die die verwerfliche Gesinnung ihrer Anführer kritisieren und deren Tun scharf verurteilen. Die verschiedenen Wesenheiten der beteiligten Personen werden von dem Regie-Duo bestens herausgearbeitet. Schon rein technisch verstehen sich die beiden Regisseure vortrefflich auf ihr Handwerk. Aber auch ihr konzeptioneller Ansatzpunkt war voll überzeugend.

Sergio Morabito setzt das Geschehen im Programmbuch in Beziehung zum Theater der Grausamkeit. Dieses weist neben Artaud‘ schen Elementen auch solche von Beckett und Brecht auf. In diesem Punkt gibt es divergierende Ansichten. Brecht jedenfalls huldigt das Regie-Duo in seiner Inszenierung deutlich, und zwar durch das Prinzip des Theaters auf dem Theater. Dieses ist zwar nicht mehr neu, aber immer wieder effektvoll. Hier ist es der Hofstaat des Duca, der dem Publikum derart präsentiert wird – oder auch nicht, denn er ist nicht zu sehen, verborgen hinter einer Brecht‘ schen Gardine, die dem Hauptvorhang des Stuttgarter Opernhauses gleicht und unter dem sich zu Beginn der Duca und Borsa stark betrunken hervor rollen. Brecht huldigen Wieler und Morabito ferner durch die Einbeziehung des Zuschauerraumes in die Produktion. Monterone schleudert dem Duca und Rigoletto seinen Fluch von der Königsloge im ersten Rang aus entgegen. Im zweiten Akt positionieren die Regisseure einen der Entführer Gildas in einer seitlichen Beleuchtungsloge.

Wenn sich der Vorhang des Theaters auf dem Theater hebt, erblickt man eine von Bert Neumann stammende, karg und düster wirkende Hinterhof-Fassade vor dem Prospekt einer maroden grauen Stadtansicht, die im dritten Akt von einem revolutionär anmutenden roten Feuerschein bedeckt wird. An der Revolution macht das Regie-Duo dann sein Konzept fest. Es deutet Rigoletto, der hier noch den konventionellen Buckel trägt, als begeisterten Anhänger der Französischen Revolution. Er mischte sich lediglich zu dem Zweck in das Gefolge des Duca, um von dort aus den Aufstand in die Wege zu leiten. Sein ganzes Leben steht im Dienst der Revolution. Eigentlich ist es aber gar nicht sein eigenes Dasein, das er lebt, sondern – entsprechend dem Prinzip des Theaters auf dem Theater – lediglich eine Rolle, die er nur zu bereitwillig spielt. Als Agent provocateur stiftet er seine Umwelt am laufenden Band zu Verbrechen an.

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Der Zweck davon besteht darin, das Terrorregime des Duca von innen heraus zu zerstören. Nachhaltig stachelt Rigoletto die Bevölkerung zur Revolution auf. Um das zu erreichen, gibt er sich bewusst der Lächerlichkeit preis. So legt er zum Beispiel denselben Königsmantel an, den Napoleon auf Jacques-Louis Davids berühmtem Gemälde von der Kaiserkrönung trägt. Derartige Chiffren benutzen Wieler und Morabito gerne, viel und dabei recht effektiv. Zudem lassen die Regisseure an keiner Stelle einen Zweifel daran, dass wir es hier mit einem Spiel im Spiel zu tun haben – so beispielsweise, wenn sich der Bühnenraum mit Hilfe der Drehbühne um seine eigene Achse dreht und dabei die Rückseite der Aufbauten in aller Nüchternheit zur Schau stellt. Dieser Ansatzpunkt mutet durchaus logisch an. Schon William Shakespeare behauptete ja, dass die ganze Welt lediglich eine Bühne sei und alle Menschen in ihr nur Spieler wären. Mit diesem Punkt ist das Regie-Duo bei der Literatur angelangt, für die es ebenfalls eine enorme Vorliebe zu hegen scheint.

Indes huldigt es nicht Shakespeare, sondern Victor Hugo, aus dessen Feder die dichterische Vorlage Le roi s‘ amuse von Verdis Werk stammt. Hugos Roman Les Miserables scheint sich bei Wieler und Morabito besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Die total unkonventionell bereits im ersten Akt in Männerkleidern auftretende Gilda identifizieren sie gekonnt mit dem Gassenjungen Gavroche aus Hugos Buch. Sie wirkt hier überhaupt nicht weiblich, sondern erscheint als ausgemachter Jakobiner. Rigoletto, der mit ihr auf einem äußerst kameradschaftlichen Fuß steht, hat sie mit Hilfe Giovannas zu einer überzeugten Revolutionärin erzogen, die den Idealen der Französischen Revolution gänzlich anhängt. In französischer Sprache schreibt sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf riesige Papierbögen, die Rigoletto anschließend an einer Wäscheleine zum Trocknen aufhängt. Er hat mit seiner Erziehung Erfolg. Gerade ihr von der Konvention abweichendes männliches Outfit lässt sie dem Duca als interessant erscheinen. Der von ihr an den Tag gelegte Reiz des Andersartigen zieht ihn heftig an und lässt ihn das Mädchen heiß begehren. Auf Dauer kann er sich mit ihrem burschikosen Äußeren dann aber doch nicht anfreunden. Es gelingt ihm, Gilda die Freuden des Frauseins näherzubringen. Er schenkt ihr ein prachtvolles Abendkleid sowie ein kostbares Diadem. Derart ausgestattet tritt sie im zweiten Akt dem verzweifelten Rigoletto gegenüber. Nun beginnt sie, sich von den Werten ihres Vaters zu lösen. Nachhaltig fühlt sie sich zu der Glamour-Welt des Duca hingezogen und opponiert gegen die Ideale ihres Erzeugers. Dieser sieht nur noch den einen Ausweg, ihr im dritten Akt, in dessen Verlauf sie wieder Männertracht anlegt, ein Bild des Duca vorzugaukeln, das dessen wahrem Charakter nicht entspricht. Dieses Vorgehen Rigolettos ist zwar von Erfolg gekrönt, der Schuss geht aber nach hinten los. Wenn sich Rigoletto zum Schluss von der in einem traditionellen Leichensack sterbenden Gilda – in keinster Weise der liebevolle, fürsorgliche Vater, sondern der fanatische Revolutionär – ohne Mitleid distanziert, erweist es sich, dass sie für ihn nur ein Mittel zum Zweck darstellte. Unter dem teilnahmslosen Blick der still im Hintergrund sitzenden Höflinge steigt er am Ende, auf der ganzen Linie gescheitert, eine Treppe hinauf. Das war alles in hohem Maße überzeugend und bravourös umgesetzt. Daran hatte nicht zuletzt Sophia Binder, die szenische Leiterin der Wiederaufnahme, regen Anteil.

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Am Pult erwies sich die junge Nil Venditti als echte Theaterdirigentin. Unter ihren versierten Händen war Verdis Partitur in besten Händen. Dramatische und lyrische Passagen wusste sie gleichermaßen gut auszuloten. Insbesondere dem emotionalen Aspekt wies sie ein großes Gewicht zu. Dabei dirigierte sie ausgesprochen sängerfreundlich. Das trefflich disponierte Staatsorchester Stuttgart hat ihre Intensionen intensiv und klangschön umgesetzt.

Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die sängerischen Leistungen. Devid Cecconi sang mit robustem Bariton einen eindrucksvollen Rigoletto, den er auch ansprechend spielte. Wunderbar war Beate Ritter, die mit bestens italienisch fokussiertem, mit einem perfekten Legato gesegnetem und höhensicherem Sopran eine hervorragende Gilda sang. Ihr überaus weich und gefühlvoll gesungenes Caro nome war der Höhepunkt der Aufführung.

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Nicht in Bestform zeigte sich Kai Kluge in der Rolle des Duca. Das lag indes an einer Indisposition, deretwegen er sich nach der Pause ansagen  ließ. Mit tiefgründiger, sonorer Bassstimme stattete Adam Palka den Sparafucile aus. Itzeli Jáuregui gab mit profundem Mezzosopran seine Schwester Maddalena. In nichts nach stand ihr ihre ebenmäßig singende Stimmfachkollegin Rosario Chavez als Giovanna. Einen gefälligen Bariton brachte Jacobo Ochoa für den Marullo mit. Gut gefiel Marion Germain, die aus der kleinen Rolle der Gräfin von Ceprano viel machte. Stimmlich etwas unauffällig blieb der Graf von Ceprano von Junoh Lee. Mit recht hellem, nichtsdestotrotz gut gestütztem  Bass stattete Aleksander Myrling den Grafen von Monterone aus. Von dem kraftvoll singenden Borsa Joseph Tancredis hätte man gerne mehr gehört. In den kleinen Partien des Pagen und des Gerichtsdieners waren Robin Neck und Heiko Schulz zu erleben. Auf hohem Niveau bewegten sich die von Bernhard Moncado einstudierten Herren des Staatsopernchores Stuttgart.

Ludwig Steinbach, 23. April 2024


Rigoletto
Giuseppe Verdi

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 28. Juni 2015
Besuchte Aufführung: 21. April 2024

Inszenierung: Jossi Wieler und Sergio Morabito
Musikalische Leitung: Nil Venditti
Staatsorchester Stuttgart