Stuttgart: „Tosca“, Giacomo Puccini

© Martin Sigmund

26 Jahre hat sie schon auf dem Buckel, Willy Deckers im Bühnenbild und den Kostümen von Wolfgang Gussmann spielende Inszenierung von Puccinis Tosca. Dass sich eine Produktion so lange auf dem Spielplan hält, ist selten, hier aber durchaus nachzuvollziehen. Bei dieser hochkarätigen Inszenierung handelt es sich um ein wahres Schmuckstück, das hoffentlich noch lange das Programm der Stuttgarter Staatsoper zieren wird.

Willy Decker hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Mit großer Raffinesse vollführt er eine Gratwanderung, die sowohl für moderne als auch für konventionelle Geschmäcker etwas bereit hält. Zeitgenössisch ist das Bühnenbild gestaltet, die traditionellen Kostüme dagegen verweisen in das Jahr 1800, in dem die Oper spielt. Bei Decker verkommt das Werk nicht zu einem puren Ausstattungsschinken. Der Bühnenraum stellt über alle drei Akte hinweg einen kargen, fast leeren Kasten dar. Ein paar Versatzstücke reichen aus, um die einzelnen Handlungsorte zu definieren. So gibt es im ersten Akt eine riesige Madonna als Versinnbildlichung der Kirche. Der zweite Akt wird von einem langen Tisch geprägt. Und im dritten Akt sieht man im Hintergrund ein Fenster. Aus diesem Kasten gibt es kein Entrinnen. Lediglich Tosca entkommt ihm schließlich, wenn sie sich am Ende aus dem bereits erwähnten Fenster stürzt. In diesem Ambiente konzentriert sich der Regisseur voll und ganz auf die drei Hauptpersonen, die er sehr geschickt, konzentriert und abwechslungsreich zu führen versteht. Hier haben wir es mit einem Musterbeispiel in Sachen spannender und ausgefeilter Personenregie zu tun. Die Protagonisten werden von der Regie an keiner Stelle allein gelassen.

© Martin Sigmund

Der eigentliche Hauptdarsteller ist indes das Bild der Marquesa Attavanti, das Cavaradossi malt und das sich durch sämtliche drei Akte zieht. Zuerst sieht man es neben der Madonna. Im zweiten Akt ziert es Scarpias Machtzentrale. Im dritten Akt liegt es dann zerrissen am Boden. Bereits zuvor hatte es Scarpia aus Missmut über Toscas ablehnendes Verhalten beschädigt. Mit Cavaradossis Tod endet auch seine Kunst. Und der Kunst kommt in Deckers famoser Regiearbeit zentrale Relevanz zu. Alle drei Hauptpersonen sind Künstler. Tosca ist Sängerin und Cavaradossi Maler. Scarpia beherrscht meisterlich die Kunst des Bösen. Er spielt gerne mit seinen Opfern, um seine erotischen Obsessionen zu befriedigen. Kunst und Spiel sind Möglichkeiten, der Welt zu begegnen (vgl. Dramaturgie), müssen aber letztlich scheitern. Geschickt thematisiert Decker hier das Verhältnis des Künstlers zur Realität und beleuchtet einfühlsam das Spannungsfeld zwischen Kunst und Gesellschaft. Das gelingt ihm vortrefflich. Insbesondere Tosca glaubt an ein Obsiegen der Kunst, befindet sich dabei aber leider in einem Irrtum. Am Ende unterliegt die Kunst der fatalen Wirklichkeit. Kunst ist für Tosca lediglich eine Scheinwelt, die zum Schluss wie eine Seifenblase zum Platzen kommt. Die Desillusionierung des Künstlers hat ihren Höhepunkt erreicht. Er hat gegen die böse Realität keine Chance und ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – ein sehr pessimistischer Ansatzpunkt, den Decker hier aufzeigt und konsequent durchzieht. Das war alles sehr überzeugend.

Am Pult badete Dirigent Markus Poschner genüsslich in Puccinis veristischen Klangwogen, wobei er den Orchesterapparat manchmal mächtig aufdrehte. Aber auch zu mehr leisen und verhaltenen Stellen war er fähig. Die Sänger deckte er an keiner Stelle zu. Darüber hinaus wartete er mit einem Höchstmaß an fulminanter Dramatik auf. Das bestens disponierte Staatsorchester Stuttgart setzte Poschners Intentionen sehr konzentriert und klangschön um.

© Martin Sigmund

Bravourös waren die gesanglichen Leistungen. Für die Tosca brachte Ewa Vesin einen hervorragend italienisch fokussierten, strahlkräftigen und von enormem emotionalem Ausdruck geprägten dramatischen Sopran mit, den sie differenziert und nuancenreich einzusetzen wusste. Mit ebenfalls bestens fundiertem, kraftvoll virilem und ebenmäßig dahinfliessendem Tenor stattete Atalla Ayan den Cavaradossi aus. Gerardo Bullón zeichnete mit prägnantem Bariton einen bösartigen Scarpia. Sonores Bass-Material zeichnete Jasper Leevers Angelotti aus. Andrew Bogard machte aus dem Mesner sowohl schauspielerisch als auch sängerisch keine herkömmliche Klamotte, sondern nahm ihn durchaus ernst. Das hat gut getan. Vokal gab es nichts an seiner Stimme auszusetzen. Solide waren der Spoletta von Heinz Göhrig, Sebastian Bollacher als Sciarrone und Ulrich Frisch in der winzigen Rolle des Schließers. Mit einer gefälligen Kinderstimme sang Alissa Kruglyakova das Lied des Hirten. Gute Leistungen erbrachten der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart sowie der Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.

Fazit: Eine phantastische Aufführung, deren Besuch sehr zu empfehlen ist!

Ludwig Steinbach, 16. April 2024


Tosca
Giacomo Puccini

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 3. Juli 1998
Besuchte Aufführung: 14. April 2024

Inszenierung: Willy Decker
Musikalische Leitung: Markus Poschner
Staatsorchester Stuttgart