Auf allerhöchstem Niveau
Eine gewaltige Woge des sogenannten Absurden Theaters ergoss sich in den Fünfzigern und Sechzigern nicht nur auf die Theaterbühnen, sondern auch in die Unterrichtsräume der Leistungskurse Deutsch und hinterließ bei Lehrpersonen wie Schülern teils Belustigung, teils Ratlosigkeit. Ionescos Die kahle Sängerin, Arrabals Picknick im Felde oder natürlich auch Becketts Warten auf Godot, das gerade seiner Premiere im Berliner Ensemble entgegen sieht, waren Kassenschlager und Abiturthemen, und natürlich war auch Becketts Endspiel unter den Favoriten. Sinngebung gegen Sinnlosigkeit allen Seins und Handelns, die menschliche Ohnmacht gegenüber der Gewalt der Technik, die Entlarvung des schönen Scheins durch Zuspitzung waren die Themen, und wenn damals die Frage diskutiert wurde, ob das alles wirklich Theater sein könne, so wirft György Kurtágs Musikwerk Fin de partie zusätzlich die Frage auf, ob man aus dem Theaterstück eine Oper machen kann. Schon das in französischer Sprache geschriebene Drama hatte es schwer, fand niemanden, der bereit war, es auf eine französische Bühne zu bringen, so dass der Schriftsteller eine englische Fassung schuf, die in London uraufgeführt wurde. In Berlin erlebte erst die Aufführung in der Werkstatt des Schillertheaters einen durchschlagenden Erfolg, nachdem die im Schlossparktheater mit Erstaunen bis Unwillen aufgenommen worden war. In eine Studiobühne ging das Publikum halt mit ganz anderen Erwartungen und Voraussetzungen als in ein Staatstheater. Leichter hatte es die Oper, die 2018 an der Scala di Milano uraufgeführt wurde, in Dortmund ihre deutsche Erstaufführung erlebte und im Oktober vergangenen Jahres an der Staatsoper Wien zu erleben war. Im Alter von 85 Jahren hatte heute 98 Jahre zählende Komponist mit der Arbeit an seinem Werk begonnen, dessen Aufführung an der Lindenoper er aus gesundheitlichen Gründen verständlicherweise nicht live miterleben kann.
Musiker hielten sich, obwohl gemeinhin der Vertonung von Literatur eher zugewandt, gegenüber dem Absurden Theater und damit auch in Bezug auf Becketts Endspiel zurück. Es gibt lediglich eine Ouvertüre von Philip Glass.
Komponist György Kurtág verwendet etwa die Hälfte des ursprünglichen französischen Textes, dazu kommen Passagen aus anderen Werken Becketts und ein in Englisch gehaltener Prolog. Trostlos erscheint die Welt, in der die vier einem Haushalt angehörenden Personen allesamt gehandicapt eine Art Weltuntergang überstanden haben. Die Eltern ohne Beine verbringen ihre letzten Tage in Mülltonnen, der Sohn ist blind und an einen Rollstuhl gefesselt, der Diener kann zwar noch laufen, aber nicht sitzen, immerhin noch Befehle ausführen. Alles spielt in einem sowohl Schutz bietendem wie Klaustrophobie auslösendem Raum, aus dem am Schluss, nachdem die Eltern bereits das Zeitliche gesegnet haben, Hamm den Diener Clov entlässt, der sich jedoch nicht von der Stelle rührt.
Das Prosastück ist ein Kammerspiel, die Oper keine Kammeroper, sondern mit einem strausswürdigen Orchester eigentlich ganz großes Musiktheater. Das zaubert jedoch nicht einen akustischen Rausch im Orchestergaben, sondern trägt den immer verständlich bleibenden Text, bringt ihn zur Geltung, anstelle ihn zu übertönen, auch feinste Zwischentöne, schillernde Farbnuancen und zarteste Pianissimi zaubernd, dazu kommt durch den Einsatz von Celesta, Bajans und Cimbalon ein exotischer Touch. Die Spannung zwischen den Gegensätzen von Klangfülle und akustischer Intimität wird vom Dirigenten Alexander Soddy wirkungsvoll ausgekostet, angefangen von jeweils nur einem einzigen Akkord . Was aber macht die Musik mit Becketts Stück? Verstärkt sie den Eindruck von Hoffnungslosigkeit oder übermalt und entschärft sie ihn sie ihn mit klangvoller Schönheit? Sie wirkt eher wie ein Unterstreichen dessen, was der Text ausdrücken will, eine Verdichtung der Atmosphäre.
Gewundert hatte man sich darüber, dass die sonst so großzügig Bildmaterial zur Verfügung stellende Staatsoper sich bis zum Premierenabend mit nur drei kargen Fotos begnügt hatte. Das letzte Bühnenbild (Kaspar Glarner) war nach einer eher schlichte Ausschnitte und Schattenbilder bescherenden Bühne die sensationelle Überraschung: ein die ganze Bühne einnehmendes umgestürztes Riesenrad, das sich schließlich sogar noch drehte und seine Lichter flackern ließ, hatte offensichtlich sogar dazu geführt, dass nicht nur Clov, sondern auch der gelähmte Hamm, beide in silbernen Glitzeranzügen, munter darüber hinweg turnten. Ein ungerechtfertigter Eingriff in das Werk? Mitnichten, denn der Eindruck des Absurden wurde eher verstärkt als gemindert, und man hätte sich eigentlich etwas Ähnliches denken können, denn Regisseur Johannes Erath hatte bereits vorab verkündet, er wolle die Affinität Becketts zum Varieté und zum Zirkus in seiner Regiearbeit berücksichtigen. Damit er nicht nur über weite Teile hinweg den Intentionen von Dichter und Komponist ein treuer Sachverwalter geblieben, sondern hatte in ihrem Geiste schöpferisch gewirkt. So wünscht man sich eine einfühlsame und, ja, Werktreue übende Inszenierung.
Ideal war auch die Sängerbesetzung. Dalia Schaechter sang mit mildem, zärtlich verklingendem Mezzosopran die ihren Erinnerungen nachsinnende Nell und war auch, mit einem Sonnenschirmchen einer Art Maulwurfshügel entsteigend, für den Prolog verantwortlich. Der vielseitige Stephan Rügamer aus dem Ensemble hatte nicht nur eine vorzügliche Diktion, sondern auch eine überaus präsente, flexible Tenorstimme für den Nagg. Eine enorme Bühnenpräsenz konnte Bo Skovhus für den Diener Clov einsetzen. Mit dunkel schillernder Stimme sang Laurent Naouri den zwielichtigen, da offensichtlich seiner hinfälligen Hülle zeitweise entschlüpfenden, Hamm.
Die meisten Opernfreunde werden einen Verdi oder Wagner einem György Kurtág vorziehen, das zeigten auch die zahlreichen unbesetzten Plätze, aber lieber als eine verhunzte Aida sollte ihnen eine vorzügliche Umsetzung eines modernen Werks sein, und das ist die jetzt in der Staatsoper vorgestellte in vorbildlicher Weise und auf jeden Fall.
Ingrid Wanja, 12. Januar 2025
Fin de partie
György Kurtág
Staatsoper Berlin
Premiere am 12. Januar 2025
Inszenierung: Johannes Erath
Musikalische Leitung: Alexander Soddy
Staatskapelle Berlin