Ein ungewöhnliches, aber sehr interessantes, Musiker und Publikum gleichermaßen herausforderndes Programm!
Eine Komposition für 23 Bläser, ein Werk für 23 Streicher und eine große Sinfonie mit zwei Gesangssolisten: drei Kompositionen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Igor Strawinsky (1882-1971): Symphonies d´instruments à vent
Die „Bläsersinfonien“, zunächst für 24 Holz- und Blechbläser gedacht, entstehen 1920 und erscheinen 1947 in einer revidierten Fassung für 23 Bläser. Die Komposition geht auf eine Anfrage der Pariser Zeitschrift „Revue Musicale“ zurück, für eine Sonderausgabe zum Gedenken an den 1918 verstorbenen Claude Debussy ein kurzes Stück beizusteuern. Aus der Komposition eines Chorals für Klavier wird mit der Zeit ein „strenges Ritual, welches sich in kurzen Litaneien zwischen verschiedenen Gruppen gleichartiger Instrumente entfaltet“ (Igor Strawinsky). Die erste Idee eines Werks für Harmonium verwarf Strawinsky, um dann über eine reine Streicherbesetzung oder eine Mischung von Streich- und Blasinstrumenten nachzudenken. Schließlich komponiert er das Werk für zwölf Holz- und elf Blechbläser. „Insgesamt entsteht der Eindruck eines Teppichs, der aus verschiedenfarbigen Fäden gewoben ist“ (Eric Walter White). Er komponiert das Werk nach einer von ihm häufig verwendeten Baukastenmethode: Teile unterschiedlichen Charakters werden aneinander gereiht, verändert, übereinander geschichtet und miteinander verflochten. Auf diese Weise entsteht eine Art Kontrapunkt. „Die Zeit liegt hinter mir, in der ich versuchte, die Musik zu bereichern. Heute möchte ich sie konstruieren. Ich suche nicht mehr den Kreis der musikalischen Ausdrucksmittel zu erweitern, ich suche in das Wesen der Musik einzudringen…Der Kontrapunkt scheint mir die einzige Materie zu sein, mit der man starke und dauerhafte musikalische Formen schmiedet“ (Igor Strawinsky).
Den Beginn der „Sinfonien“ bildet eine siebentaktige „Anrufung“ der Klarinetten, die von einem kompakten Bläsersatz beantwortet wird. Die Formel g-as-es, die sich auch später in der Psalmensinfonie wieder findet, beschließt den ersten Baustein. Erweitert und abgewandelt wird er bestimmend für den weiteren Verlauf. Immer wieder wird er überlagert und verflochten mit bildhaften Litanei- und Volksliedmotiven, Tanzrhythmen und einem intensiven Trompetenmotiv, das dann auch von den Holzbläsern übernommen wird. Drei unterschiedliche Tempoangaben für eine Viertelnote 72-108-144 kennzeichnen die siebzehn Abschnitte. Zunehmend setzt sich der Schlusschoral durch. Als dichter, ruhiger Bläsersatz beschließt er das Werk.
Die Londoner Uraufführung am 10. Juni 1921 unter Leitung von Sergej Kussewitzky wird zu einem Misserfolg. Ein Kritiker urteilt, der Anfangsteil klänge wie das Schreien eines Esels, auch Strawinsky ist mit der Aufführung nicht zufrieden. Enttäuscht schreibt er: „Aber ich hoffte doch, das Werk werde einige bewegen, die aus rein musikalischen Gründen zuhören und nicht den Wunsch haben, ein sentimentales Bedürfnis zu befriedigen“. Er untersagte daraufhin den Druck der Stimmen und der Partitur. 1947, zwei Jahre nach Erhalt der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft, revidiert er die „Bläsersinfonien“, wie auch andere Werke, um sich die amerikanischen Urheberrechte zu sichern, aber auch, um Verbesserungen anzubringen und sie seiner inzwischen gewandelten musikalischen Ästhetik anzupassen. Eine Aufführung der Symphonies d´instruments à vent, einem Meisterwerk von höchster Konzentration und Originalität, von weniger als zehn Minuten Spieldauer, stellt eine große Herausforderung an die Musiker und an das Publikum dar. Das Bläserensemble der Staatskapelle schafft es mit Bravour, den Hörerinnen und Hörern nicht nur die Struktur, sondern auch den unterschiedlichen Charakter der Teile und damit die musikalische Qualität der Komposition zu vermitteln.
Richard Strauss (1864-1949): Metamorphosen – Studie für 23 Solostreicher
„Mein Lebenswerk ist zerstört. Meine Opernwerke werde ich nicht mehr hören und sehen, kurz, mein Leben ist zu Ende und ich kann nur mehr in Gottergebenheit warten, bis mich mein seliger Namenskollege zu sich in den Walzerhimmel holt“ (Richard Strauss, Herbst 1944). Der Zweite Weltkrieg ist in seiner Endphase, die für Strauss so bedeutsamen Kulturmetropolen Dresden, Berlin, München, Wien mit ihren Opernhäusern und Konzertsälen liegen in Trümmern. Der Komponist spielt in der Zeit des Nationalsozialismus eine oft zweifelhafte Rolle. Jetzt muss er erkennen, dass seine eigentliche künstlerische Heimat in Schutt und Asche liegt, dass sein Volk es war, das diesen mörderischen Krieg angezettelt hat und jetzt in diesem Krieg untergeht. Strauss zieht sich in seine Villa in Garmisch-Partenkirchen zurück und komponiert, „Handgelenksübungen“, da er nicht den ganzen Tag lesen könne. Durch Vermittlung von Willi Schuh und Karl Böhm bekommt er den Auftrag, ein Werk für das von Paul Sacher geleitete Collegium Musicum in Zürich zu schreiben. In den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 komponiert Strauss die Metamorphosen, von ihm selbst bezeichnet als „Widerschein meines ganzen vergangenen Lebens“; es ist ein Abgesang auf eine Welt, die sich nach Ende des Krieges völlig neu erfinden muss. Am 13. März 1945 ist die Partitur fertig gestellt, am 25. Januar 1946 findet die vom Publikum als „ein musikalisches Ereignis erster Ordnung“ gefeierte Uraufführung unter Sacher in Zürich statt.
Die Metamorphosen sind ein zutiefst persönliches Werk, eine Musik des Abschieds, atmosphärisch dunkel und voller Trauer, mit einer für Strauss ungewöhnlich dominierenden Molltonart. Dennoch leuchten immer wieder Momente hervor, die an Ariadne und Zarathustra erinnern. Der große durchgängige Satz ist in drei Abschnitte gegliedert, zwei Adagio- Passagen umschließen einen lebhaften Mittelteil. Vier Themen bilden die Grundlage der Komposition. Jedes Motiv entwickelt sich aus dem voran Gegangenen. Diese wandeln sich, erscheinen in neuer Gestalt, überlagern sich in vielschichtigen Stimmverläufen: ein freier Variationssatz, ein ständiger Fluss, eine große musikalische Metamorphose. Strauss zeigt sich als Meister der melodischen Polyphonie. Dabei zieht sich durch das ganze Werk ein Motiv, das rhythmisch dem Beginn des Trauermarschs der Beethovenschen Eroica gleicht. Kurz vor dem Schluss der Metamorphosen zitiert Strauss schließlich Beethoven im Original, die vier Anfangstakte des Marcia funebre im Unisono der Violoncelli und Kontrabässe, überschrieben mit dem vieldeutigen In memoriam!. Die kammermusikalisch-durchsichtige Komposition fordert zu Recht 23 Solospieler. Jede Note ist wichtig, jeder Spieler mit seiner Persönlichkeit ist wichtig! Hier zeigt sich, dass die Staatskapelle auch über hervorragende Streicher verfügt: herrlich die Gruppe der tiefen Streicher um den Solocellisten Claudius Popp. Es gelingt eine wunderbar ausgewogene, klangschöne und in den Adagio-Teilen tief bewegende Aufführung. Selbst ein unpassendes Husten konnte die Stille des Publikums am Schluss nicht stören.
Alexander Zemlinsky (1871-1942): Lyrische Symphonie op.18
Zemlinsky ist über einen langen Zeitraum den meisten nur als Lehrer und später als Schwiegervater von Arnold Schönberg bekannt. Seine Kompositionen, zwischen Spätromantik und Moderne, entziehen sich über viele Jahre einem breiten Publikumsinteresse. Er nutzt Stilmittel von Brahms und Wagner,
entwickelt sie weiter, und ist gleichzeitig offen für das Neue. Er unterstützt die Wiener Schule, ohne selbst den Schritt in die Atonalität zu gehen. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verlässt er 1933 Deutschland, geht nach Wien, um 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland in die USA zu emigrieren. Erst in den siebziger Jahren entsteht so etwas wie eine Zemlinsky-Renaissance, man beginnt, sich mit seinem kompositorischen Schaffen zu befassen, man erkennt den Reichtum seiner vielschichtigen und klanglich raffinierten Musik, die ein wichtiges Bindeglied zwischen der Musik der Spätromantik, des Jugendstils und den Kompositionen von Schönberg, Webern, Berg und deren Umfeld ist.
Die Lyrische Symphonie entsteht 1922/1923 und wird im Jahr darauf am 4. Juni 1924 mit großem Erfolg unter Leitung des Komponisten in Prag uraufgeführt. Die Sinfonie ist heute das bekannteste und meistaufgeführte Werk Zemlinskys. Inspiriert von Gustav Mahlers Lied von der Erde, entsteht ein gewaltiges Werk, Musik von großer Expressivität und Eindringlichkeit, sieben Gesängen für ein üppig besetztes Orchester und zwei Gesangssolisten nach Gedichten von Rabindranath Tagore. Wichtig für Zemlinsky ist ein musikalischer und textlich dramatischer Zusammenhang der sieben Sätze. Vor- und Nachspiele verbinden die Teile, die abwechselnd von den beiden Solisten gesungen und ohne Pause gespielt werden. Bedeutend ist die leitmotivische Behandlung der Themen. Der Komponist fordert „ein und denselben tiefernsten Grundton“. Das betrifft also auch den zweiten Satz, der eigentlich eine Art Scherzo ist. Der vertonte Text entstammt Tagores Gedichtsammlung Der Gärtner und handelt von der Liebe eines Mädchens und einem Prinzen. Die Musik leuchtet die feinen Nuancen des Textes zwischen Liebessehnsucht, Erfüllung und Abschied aus. Die Lyrische Symphonie ist vielleicht auch als bekenntnishaftes Dokument Zemlinskys zu verstehen, auch er hat sich den neuen Wegen in der Musik verweigert. Für die Verehrung, die der Komponist dennoch von seinen Zeitgenossen erfuhr, ist das zweite Streichquartett von Alban Berg ein Zeugnis. Er zitiert den dritten Satz der Sinfonie und nennt das Quartett beziehungsreich „Lyrische Suite“.
Die Lyrische Symphonie fordert die Gesangssolisten in besonderem Maße, entsteht doch durch die attacca-Folge der Sätze eine opernhafte Handlung.
Julia Kleiter, international hochgeschätzt, erfüllt den hochgradig schwierigen Sopranpart souverän, in der Höhe, kraftvoll, wenn nötig, mit warmem Ton in den lyrischen Passagen und einer hervorragend verständlichen Deklamation.
Der britische Bariton Simon Keenlyside, mit einer klaren, schlagkräftigen Stimme, steht ihr nicht nach, leidet in der Verständlichkeit seines Textes aber oft durch den zu massiven Orchesterklang.
Dirigent des Abends ist Thomas Guggeis, der sich seinerzeit als Assistent von Daniel Barenboim auszeichnete, als er für Christoph von Dohnányi kurzfristig die Premiere der Salome übernahm. Inzwischen ist er Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt/Main und gefragter Gastdirigent der bedeutenden Orchester und Opernhäuser Europas und der USA. Mit eindeutiger Schlagtechnik und entsprechendem Körpereinsatz erreicht er ein präzises und ausdruckstarkes Musizieren.
Das Publikum dankt den Aufführenden mit Stille, gefolgt von begeistertem Beifall.
Bedauerlich nur, dass das Haus nicht ausverkauft war, dass die musikalisch interessierte Hörerschaft in der Mehrheit immer noch nicht bereit ist, sich mit dem Anspruch einer so herausfordernden Programmzusammenstellung zu konfrontieren.
Bernd Runge, 16. Dezember 2024
Igor Strawinsky: Symphonies d´instruments à vent
Richard Strauss: Metamorphosen – Studie für 23 Solostreicher
Alexander Zemlinsky: Lyrische Symphonie op.18 – in sieben Gesängen nach Gedichten von Rabindranath Tagore für Sopran, Bariton und Orchester
Staatsoper Unter den Linden, Berlin
16. Dezember 2024
Solisten:
Julia Kleiter, Sopran
Simon Keenlyside, Bariton
Dirigent: Thomas Guggeis
Staatskapelle Berlin