Berlin: „Melancholie des Widerstands“, Marc-André Dalbavie

Uraufführung einer filmischen Oper

Die strenge musikalische Form der Fuge und im Kontrast dazu, aber im Wortlaut frappierend damit harmonierend eine Welt, die aus den Fugen zu geraten droht, übten wohl eine so unwiderstehliche Faszination auf die Macher von Marc-André Dalbavies neuer Oper Melancholie des Widerstands nach dem gleichnamigen Roman von László Krasznahorkai aus, dass sie sie zu den Angelpunkten der Uraufführung und letzten Produktion an der Berliner Staatsoper werden ließen. In der Sprache des Romans, dem Ungarischen, wie der des Librettos von Guillaume Métayer, dem Französischen, sieht das allerdings schon ganz anders aus, denn da gibt es als Fuge nur das entsprechende Musikstück. So kann sich also nur der des Deutschen Mächtige an dem sinnigen Wortspiel erfreuen, was nichts daran ändert, dass es tatsächlich beim Personal u.a. um einen Musikprofessor geht, der sich mit der Musikform Fuge befasst, vor allem aber mit der Aufdeckung des Betrugs, den seiner Meinung nach die Harmonielehre darstellt, um eine Stadt, in der das Leben aus den Fugen zu geraten droht, und um ihre Bewohner, die in unterschiedlicher Art darauf reagieren. Der Roman entstand 1989, in einem Jahr großer Umbrüche im Ostblock, und wie sehr er den Nerv der Zeit traf, zeigt die prompte Verfilmung zu Werckmeister Harmonies (diesen Titel trägt auch die Musiktheater Performance von Thom Luz, die ab 1. Juli im Apollosaal der Staatsoper zu erleben ist) und die Umformung zu einem Opernlibretto, das der kürzlich verstorbene Péter Eötvös, Komponist auch vom an der Staatsoper uraufgeführten Sleepless, unter dem Titel Valuschka vertonte. Seine Oper nach Melancholie des Widerstands wurde im Dezember 2022 in Budapest uraufgeführt und erlebte im Frühjahr 2024 ihre deutsche Erstaufführung in Regensburg. Das Thema scheint also den Nerv der Zeit zu treffen und den Nachteil des Buches, das zwar umfangreich mit 450 Seiten, aber äußerst handlungs- und, abgesehen vom Verhör am Schluss, dialogarm und deshalb für ein Libretto eher ungeeignet ist, aufzuwiegen. Auch dürfte die Tatsache, dass es weniger ein Miteinander als ein Nach- und Nebeneinander der Schicksale der Hauptpersonen gibt, einer Umformung zum Drama eigentlich entgegenstehen. Neben dem erwähnten Professor gibt es dessen abgesehen vom Wäschewaschen von ihm getrennt lebende Ehefrau, die sich seiner jedoch wieder bemächtigen will, als sie sich damit in der Lage seht, die Macht in der Stadt zu erobern. Die Verbindung zur Außenwelt stellt für den Musiker der junge Briefträger Valuska (so in der deutschen Übersetzung des Romans) dar, der nicht zuletzt wegen seiner Naivität von seiner dem Bürgertum zugehörigen Mutter Madame Pflaum verstoßen wurde und der fanatisch der Beobachtung kosmischer Erscheinungen verfallen ist. Sie alle leben in einer Zeit und in einer Stadt, in der eine Katastrophe sich ankündigt, welche Vorahnung noch verstärkt wird durch die Ankunft einer Zirkustruppe mit einem toten Wal und einem winzigen Herzog, der jedoch in die Oper optisch keinen Zugang gefunden hat. Die Rückkehr zu den Werckmeisterschen Harmonien ist schließlich auch keine zur Vernunft, sondern eher das Eingeständnis einer Niederlage, und wer sich von einem Wenderoman und einer darauf beruhenden Wende-Oper ein „Durch Nacht zum Licht“ erwartet, der ist ebenso auf dem Holzweg wie der in der Romanvorlage ein fugengleiches, strengen Formen gehorchendes Kunstwerk Vermutende.

© William Minke

Der Fischer-Verlag kündigte ihn als „schwarze Parabel auf Süd-Osteuropa“ an, die Atmosphäre, die das Werk ausstrahlt ist ähnlich der in der untergehenden Habsburger Monarchie herrschenden. So scheint es keine Rolle gespielt zu haben, dass der Romanautor in den entscheidenden Jahren die friedliche Revolution als in Berlin Ansässiger erlebte, hielt es ihn nicht davon ab, zum letzten Kapitel das über die in allen verstörenden Details geschilderte Verwesung der Leiche der zum Opfer des Aufruhrs gewordenen Frau Pflaum zu machen. So verwundert es nicht, dass auch die einzelnen Interludien der Filmoper Titel wie Requiem oder Stabat Mater tragen.

Dürften Wagner und Verdi bei heutigen Einstudierungen ihrer Werke zugegen sein, kämen die meisten Produktionen wegen ihrer Proteste kaum vor Augen und Ohren des Publikums. Da der Komponist von Melancholie des Widerstands bei den Proben zugegen war, kann man sicher sein, dass sich niemand seinen Intentionen widersetzte. Für Regisseur David Marton ist der Stoff kein neuer, er hatte ihn 2012 in der Schaubühne bereits unter dem Titel Das wohltemperierte Klavier auf eine Bühne gebracht, für die „filmische Oper“, als die er das neue Werk verstanden wissen will, erarbeitete er gemeinsam mit Guillaume Métayer das Libretto. Bühnenbildnerin Amber Vandenhoeck und Regisseur entschieden sich für eine Dreiteilung mit einer Vorderbühne mit Klavierspieler, dahinter eine Leinwand, auf der live auf der Drehbühne Gefilmtes abgebildet wird, und eine zweite Leinwand, auf der die Stadt dargestellt ist. Außerdem gibt es von rechts nach links eine Schiene, auf der so Banales wie eine Waschschüssel, aber auch ab und zu die Kamera fahren kann. Besonders interessant wird es, wenn man ein und dieselbe Szene gleichzeitig nur als Ausschnitt und zur Gänze erblicken kann. Die Kostüme von Pola Kardum spiegeln die Achtziger des vergangenen Jahrhunderts wider.

© William Minke

Phänomenal ist die Sängerbesetzung mit Philipp Jaroussky, als Barockheld berühmt geworden, an der Spitze in der Rolle des Valouchka, die ihm vom Komponisten, der sich vom Countertenor inspirieren ließ, in enger Zusammenarbeit auf die Stimmbänder komponiert wurde. Da abwechselnd gesprochen und gesungen wird, muss seine Stimme zwischen den Registern Fahrstuhl fahren, denn die Sprechstimme ist die eines Mannes. Die Sympathie der Opernmacher für die Figur zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der junge Mann in der Oper fliehen und sich in der Wohnung seiner ermordeten Mutter häuslich einrichten kann , während er im Roman lebenslänglich in eine Irrenanstalt eingesperrt wird. Jaroussky verleiht ihm einen beinahe übersinnlichen, zumindest keuschen akustischen Habitus und wird ihm zudem auch in seinem hoch engagierten Spiel gerecht. Ebenfalls aus der Barockmusikbekannt ist Sandrine Piau, die der unseligen Rosi Pflaum Gestalt und Stimme verleiht und ebenso eindrucksvoll in der musikalischen Gestaltung wie im stummen Spiel, so während der Eisenbahnfahrt ist. Als Charaktertenor bewegt sich Matthias Kling als Georges Esther zwischen Klavier und Schlafsofa, Roman Trekel beschneidet als Wirt seinen kümmerlichen Bonsai und alle sind auch akustisch immer höchst präsent, da mit Verstärkern gearbeitet wird. Daran liegt es aber nicht, dass Anna Kissjudit als Postbeamtin einen höchst beachtlichen Auftritt hat, so wie sich auch Jan Martinik und Julian Mehne als Leute vom Zirkus auf sich aufmerksam machen können. Einen großartigen Auftritt hat Tanja Ariane Baumgartner als karrieresüchtige Angèle Esthers mit der verlogenen Trauerrede auf ihre Intimfeindin Rosi Pflaum, mit deren sorgsam gehütetem Eingemachtem sie skrupellos ihren neuen Beschützer füttert.

© William Minke

Dalbavie selbst hatte seine Musik als zwischen tonal wie atonal sich bewegend bezeichnet, impressionistisch „fächern sich Spektralklänge auf“. Streckenweise vermeint man Sphärenmusik zu vernehmen, aber neben Filigranem ist auch der Einsatz eines Riesenapparats zu vernehmen, Geräusche wie das der Lokomotive werden in das Klangbild integriert, und bei der Wahl der Stimmfächer war es dem Komponisten wichtig, keine akustische Harmonie zwischen diesen entstehen zu lassen, wenn diese im dramatischen Geschehen nicht vorhanden war. Das ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, da es so gut wie nichts Duettmäßiges gibt. Das Orchester der Staatsoper unter entledigt sich seiner vielfältigen Aufgaben unter der Leitung von Marie Jacquot mit Anstand

Melancholie des Widerstands sollte auch ein Abschiedsgeschenk des nach Zürich wechselnden Intendanten Matthias Schulz an das Berliner Publikum sein und ist zugleich Daniel Barenboim gewidmet, mit dem der Komponist bereits in jungen Jahren zusammenarbeitete. Ein ungelöstes Rätsel bleibt das dem Buch vorangestellte Motto: „Es vergeht, aber es geht nicht vorüber.“ Ergibt es nicht umgekehrt mehr Sinn? Auf jeden Fall Sinn ergibt es, den Roman zu lesen, ehe man in die Oper geht, um diese in ihrer ganzen Komplexität genießen zu können.

Ingrid Wanja, 30. Juni 2024


Melancholie des Widerstands
Marc-André Dalbavie

Staatsoper unter den Linden, Berlin

Uraufführung am 30. Juni 2024

Regie: David Marton
Musikalische Leitung: Marie Jacquot
Orchester der Staatsoper Berlin