Wie schon so oft: Akustisch Hui, optisch Pfui
Außer einer knappen Erwähnung keine Rosaline, für die Romeo bei William Shakespeare heftig, aber nur für kurze Zeit entflammt ist, dafür aber einen treu ergebenen Pagen Stéphano gibt es bei Charles Gounod und ein letztes Liebesduett in der Gruft der Capulets, denn in der Oper darf Romeo noch für ein solches mit Juliette der Wirkung des Gifts länger widerstehen, während des Engländers Juliet den Geliebten nicht mehr lebend erblickt. Ansonsten hielt sich Gounods Librettist Jules Barbier eng an Shakespeare angelehnt, denn das Prunkstück der Oper, Juliettes Walzer im ersten Akt, ist nicht ihm, sondern der Gattin des damaligen Pariser Operndirektors, der das Stück zu Uraufführung brachte, zu verdanken, der Page Stéphano der damaligen Vorliebe für eine solche Figur, auch in Meyerbeers Hugenotten und anderen Beispielen für die Grand Opéra zu finden.
Weniger Respekt als Gounod für Shakespeare hat offensichtlich Regisseurin Mariame Clément für Gounod und Shakespeare gleichermaßen und für jegliche Aufführungstradition, wenn sie die Geschichte ins Hier und Heute verlegte. Wenn der Romeo-und-Julia-Mythos in Verona zum Werbegag für die Stadt und unzählige Produkte bis hin zum Zuckerzeug, den Baci di Giulietta, verkommen ist, so ist er nach über hundert Jahren Abwesenheit Unter den Linden ein Opfer der Profilierungssucht der Regisseurin geworden, die die Aufführung zwischen zerfallenen Riesenschmetterlingen, Heizkörpern in der Leichenhalle und einem gänzlich überflüssigen Ballett, das Gounod selbst als „décomposition“ bezeichnete, hin- und herschlingern lässt.
Nicht nur wer viele Jahre lang in der Nähe von angeblich Julias Elternhaus seinen Urlaub verbrachte und verbringt und die Via Cappello wegen des Touristenandrangs vor dem nachträglich angebauten Balkon daran meidet, dürfte zwar Adaptionen des Stoffs wie West Side Story schätzen, weniger aber die Verlegung von Gounods Oper in die Jetztzeit und die Verwandlung der zarten Renaissance-Jungfrau in eine Göre mit türkisfarbenen Haaren, die kaum zur Schlaftrunkampulle gegriffen, sondern eher ihren Alten einen Vogel gezeigt hätte, vielleicht noch ins nächste Frauenhaus geeilt wäre, wenn diese ihr einen Gatten hätten vorschreiben wollen. Die Regie sieht Romeo als einen von der eigenen Familie und sie umgebenden Gesellschaft gelangweilt und sich von der Julias angezogen, was ihr mit umgekehrtem Vorzeichen ebenfalls passiert. Um das zu verdeutlichen, wird das Fest der Capulets quasi von der Lichtregie entfärbt, obwohl Text und Musik vor farbigem Übermut übersprudeln. Wer im Publikum sich vielleicht ein bedauerndes „O weh“ ausstoßen hört, ist auf dem Holzweg, denn das nun in jeder Vorstellung sich wiederholende Stolpern Romeos über die Gartenliege ist nicht etwa ein harmloser Bühnenunfall, sondern Ausdruck der „Frische“, die der Inszenierung innewohnen soll. Inwieweit aber „trägt (die neue Sicht auf die alte Geschichte) zugleich den inhaltlichen Abweichungen von Gounods Oper gegenüber Shakespeares Dramenvorlage Rechnung“? Diese Behauptung hätte nur dann einen Wahrheitsgehalt, wenn man die Schlussszene streichen oder Rosaline wieder einen Ehrenplatz einräumen würde. Zum wiederholten Mal und wachsenden Überdruss provozierend, wird einer stimmigen Geschichte ein Regiekonzept übergestülpt, werden Opernstoffe aus allen Epochen und Erdteilen in das Prokrustesbett des Hier und Heute gepresst und damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Man hätte das Stück gleich, Geld und Aufwand sparend, in Kulissen und Kostüme von Die lustigen Weiber von Windsor, Don Giovanni oder Falstaff, wie sie sich am gleichen Haus in ähnlicher Optik präsentieren, versetzen können. Stattdessen hat man jedoch außer der Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Hansen noch Verantwortliche für Video, Choreographie, Stuntkoordination und gleich außer der Regisseurin zwei Spielleiter verpflichtet. Zu empfehlen sind für diese Produktion immerhin die Plätze mit eingeschränkter Sicht oder die reinen Hörplätze, denn akustisch ist die Aufführung in großen Teilen überaus erfreulich.
Das beginnt mit Elsa Dreisig, die, am Haus bestens bekannt, bereits mit der Juliette einen Riesenerfolg in Paris erzielen konnte. Auch ihre Berliner Juliette bezauberte das Publikum mit einer klaren, biegsamen, leuchtenden und elegant geführten Sopranstimme, die sich der wachsenden Reife der Figur anpasste. Sein Bruder Pene Pati hatte die Arie des Roméo bereits in der Aidsgala der Deutschen Oper gesungen und ist auch der Star der CD, in der die halbe Familie aus Samoa sich beteiligt hatte. Bei Gala und auf CD hatte sich der Tenor Amitai Pati noch zurückhalten müssen, nun war er ein ansprechender Roméo mit einem strahlenden, apart timbrierten Tenor, eleganter Gesangslinie und nur in der Extremhöhe etwas schwächelnd. Frére Laurent Nicolas Testé, hier ein Lehrer, der nebenberuflich als Standesbeamter fungiert, bewies mit Zopffrisur Fortschrittlichkeit und mit sonorem Bass vokale Kompetenz. Im oberen Register schwächelnd zeigte sich hingegen Arttu Kataja als Capulet. Als angemessen kraftvoll in Gesang und Spiel erwiesen sich Johan Krogius als Tybalt und Jaka Mihelac als Mercutio, Manuel Winckhier als Le Duc und David Ostrek als Paris verbreiteten Dunkel-Balsamisches. Marina Prudenskaya verschwendete ihre wunderschöne Mezzostimme an die Gertrude, Ema Nikilovska verspritzte als Stéphano vokale Ironie mit dem Chanson von der „blanche tourterelle“. Waren Manuela, Pepita und Angelo aus dem Personenverzeichnis Musterschüler bei Pere Laurent? Das Programmheft gibt darüber leider keine Auskunft. So spießig die Optik des Chors war, so edel und wunderbar melancholisch klang sein Gesang (Dani Juris). Mit reichen Farben und straffer Eleganz trug das Orchester unter Stefano Montanari das Seine zum akustischen Gelingen des Abends bei und strafte immer wieder die Optik Lügen.
Ingrid Wanja, 10. November 2024
Roméo et Juliette
Charles Gounod
Staatsoper Berlin
Besuchte Premiere am 10. November 2024
Inszenierung: Mariame Clément
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Staatskapelle Berlin