Darmstadt: „La Traviata“

In prächtigen Kostümen

Premiere am 07.12.2013

Rückblick aus dem Sterbezimmer auf Freud und Leid der Vergangenheit

Die Traviata gehört zu den drei beliebtesten Opern des Standard-Repertoires und damit zu den meistgespielten Werken der Opernliteratur. Während eine Vielzahl von Opernhäusern in Deutschland im Verdi-Jahr stärker dessen weniger gespielte frühere Opern aus seiner „Galeerenzeit“ berücksichtigen, nimmt sich das Staatstheater dessen meistgespielten Werks an und bringt damit eine von 23 Neuproduktionen weltweit in dieser Spielzeit (operabase); insgesamt steht La Traviata bei über 130 Häusern auf dem Spielplan. Was kann da einem Regisseur noch einfallen, wenn einem „nur“ ein „normales“ Theater zur Verfügung steht und nicht z.B. Zürich Hauptbahnhof als Szenerie (Adrian Marthaler 2008)?

Regisseur John Dew ist mit seiner vorletzten Inszenierung als Intendant des Hauses aber doch wieder etliches Neues eingefallen. Zunächst reibt man sich die Augen: La Traviata wird ohne Pause in einer Spielzeit von zwei Stunden gegeben. Gut für die, die am Samstagabend etwas früher nach Hause kommen wollen, schlecht für die Theater-Gastronomie. Das sind natürlich keine künstlerischen Kriterien. Aber auch diesbezüglich hat die Idee etwas für sich. John Dew präsentiert auf der großen Bühne ein intimes Kammerspiel (unterbrochen von den beiden großen Chorszenen) zwischen Violetta und Alfredo, zu denen sich noch die doppelte Vaterfigur des Giorgio Germont gesellt. Ohne szenische Unterbrechung fließen die Akte und Bilder ineinander, wobei kleine Möbelgruppen auf die Bühne gleiten, welche die Spielorte der vier Szenen glaubhaft machen. Kaum fallen die Generalpausen der Musik auf. Das ist sehr gut gelungen.

Liana Aleksanyan (Violetta Valéry), Peter Koppelmann (Gaston), Arturo Martín (Alfredo), Opernchor

Dazu lässt John Dew die beiden ersten Akte aus der Rückschau der Violetta im dritten Akt ablaufen. Der Bühnenbauer Dirk Hofacker hat eine einfache, aber reinliche Dachstube etwas nach hinten auf die Bühne gestellt: Bett, Frisiertisch/Sekretär, ein überdimensioniertes Bild der Violetta in im Prachtkostüm des ersten Akts und ein Oberlicht. Von hier aus sieht in weißem Nachtgewand eine doppelnde Violetta auf wichtige Elemente Ihres Lebens mit Alfredo zurück. Großartig, wie die Schauspielerin Anthoula Papadakis diese (natürlich) stumme Rolle der verfallenden Kurtisane fast eineinhalb Stunden gestaltet, die Szenen noch einmal miterlebt und erneut durchleidet. Folgerichtig wird die Stube zum dritten Akt ganz nach vorne gefahren, die Sängerin Violetta, jetzt in dem weißen Nachtgewand, spielt ihre Rolle zu Ende. Kleinere Streichungen und einige Hinzufügungen aus authentischem Archiv-Material verändern die Oper kaum merklich; die Karnevalsmusik aus dem letzten Akt ist gestrichen, der sich kammerspielartig auf die drei Hauptakteure konzentriert.

Anthoula Papadakis (Violetta), Liana Aleksanyan (Violetta Valéry)

In einem Beitrag fürs Programmheft betont John Dew die Tatsache, dass es sich bei der Traviata in der Mitte des letzten Jahrhunderts um einen zeitgenössischen, ja sogar historisch in der damaligen Zeit verankerten konkreten Stoff handelt. Nach dem Buckligen hatte somit Verdi zum zweiten Mal seine früheren historischen Stoffe, die thematisch noch in der Barock-seria fußen, verlassen und begibt sich die Halbwelt seiner eigenen Epoche. (Er lebte monatelang bei Paris in wilder Ehe). So etwas hatte seit Le nozze di Figaro nicht mehr zu einem durchschlagenden Erfolg geführt. Dass solche Halbwelt-Milieus mit ähnlichen persönlichen Konstellationen auch heute existieren, haben schon viele Inszenierungen der Traviata thematisiert. Dew interessiert das aber nur ganz am Rande, denn er verlegt die Handlung nur etwas nach vorne, etwa ans Ende des 19. Jhdts. Das beglaubigen in erster Linie die Kostüme von José-Manuel Vázquez. Die hat sich das Theater etwas kosten lassen: In verschwenderische Pracht des fin de siècle sind die Damen im ersten Akt eingekleidet. Die Herren tragen zum Fest Frack, ansonsten fast zeitlose Straßenkleidung.

Liana Aleksanyan (Violetta Valéry), Arturo Martín (Alfredo Germont), Anthoula Papadakis (Violetta)

Vor Violettas Krankenzimmer beginnt die Oper zur Ouvertüre mit einer kleinen Pantomime: Alfredo trifft Violetta vor einem großen völlig schwarzen Raum. Seitlich hereingefahren wird eine Polstermöbelgarnitur, von oben senkt sich ein riesiger Lüster: Salon im Hause Violettas; mehr braucht man nicht; das Spiel kann beginnen. Der Chor wird nicht zu heftig bewegt; man kann in den Kostümen schwelgen. Im zweiten Akt wird die Szene mit Gartenstühlen und einem Schreibtisch spärlich möbliert; im Bühnenprospekt erscheint eine impressionistisch anmutende bukolische Landschaft mit Teich, Wiesen und blühenden Sträuchern: Landhaus in der Nähe von Paris. Alfredo fühlt sich zunächst wohl – in einem weißen Dandy-Anzug. Die nächste Szene spielt wieder in einem schwarzen Raum, Sofa und Spieltisch: Floras Palast. Die unsägliche Zigeunerinnen-Szene ist durch eine Variété-Einlage des Frauenchors ersetzt. Zur letzten Szene öffnet sich zum Prospekt ein Blick über die Dächer von Paris mit Eiffelturm. Alfredo erscheint jetzt in Ausgehuniform; er hatte sich nach Duell mit Duphol und anschließender Flucht wohl anwerben lassen. Ungewollte (?) Ironie in der scena ultima: Prendi: quest’è l’immagine de‘ miei passati giorni (Nimm; das ist das Bild aus meinen vergangenen Tagen), sagt Violetta und zeigt auf das Gemälde im Zimmer; das ist etwa drei Meter hoch. Die Sterbeszene wird verklärt, in dem über das graue Paris Teile der bukolischen bunten Landschaft projiziert werden. Das hätte nicht sein müssen. Insgesamt ist es John Dew mit seiner immer nahe beim Libretto bleibenden Inszenierung mit seiner originellen Einrahmung gut gelungen, trotz der an sich konventionellen Bebilderung jeglichen déjà-vu-Effekt zu vermeiden.

Sehr kontrastreich ist die Musik der Traviata, deren Extreme Martin Lukas Meister am Pult des engagiert, konzentriert und präzise aufspielenden Darmstädter Staatsorchesters ausleuchtete. Zu den Massenszenen ließ er es scharf und prägnant aus dem Graben krachen, schonte aber fast immer die Sänger und modellierte zart die innigen Stellen der Partitur. Hier und da wirkte das holzschnittartig (so wie Verdi-Feinde das beschreiben), aber neben dem sehr konsistenten Blech hörte man feines Holz, schöne Oboen-Soli und absterbende Klarinettenklänge. Für das immer wieder einsetzende Hm-Tata kann ja der Dirigent nichts. Immer präzise und sehr präsent wirkte der von Markus Baisch einstudierte Opernchor.

Liana Aleksanyan (Violetta Valéry), Arturo Martín (Alfredo Germont), Oleksandr Prytolyuk (Giorgio Germont), Elisabeth Hornung (Annina), Thomas Mehnert (Doktor Grenvil), Anthoula Papadakis (Violetta)

Was die Solisten anbelangt, war es der Abend der Liana Aleksanyan in der Titelrolle. Sie überzeugte mit ihrem warm timbrierten Sopran und kam nach anfänglichen Unsicherheiten bestens in die Rolle. Sie zeigte glühende Höhen und gefiel ebenso mit ihrer innigen, expressiven Interpretation, die im dritten Akt im „Addio del passato“ kulminierte. Dazu gefiel sie mit ihrer Bühnenerscheinung. Es war indes nicht der Abend von Arturo Martín in der Rolle des Alfredo Germont. Er begann mit scharfen Höhen, fand einige Wörter nicht, hatte Aussetzer, produzierte Kiekser und wich bei Spitzentönen ins Falsett aus. Das war sicher auch auf Nervosität zurückzuführen, denn im dritten Akt zeigte er einige schöne Passagen, wenn auch immer noch mit einer gewissen Enge beim Forcieren. Oleksandr Prytolyuk, obwohl sehr jugendlich wirkend, brachte den Giorgio Germont als rigiden Charakter gut rüber und gestaltete ihn mit seinem kraftvollen Bariton überlegen. Unter den Nebenrollen gefiel Elisabeth Hornung als Annina mit ihrem weichen, gut verständlichen Alt. Chorsolistin Anja Bildstein gefiel mit ihrem samtigen Mezzo als Flora Bervoix; dem Dr. Grenville verlieh als Luxusbesetzung Thomas Mehnert mit rundem kultivierten Bass stimmlich prächtiges Profil.

Das Publikum im ausverkauften Haus zeigte sich mit lang anhaltendem herzlichen Beifall und vielen Bravi sehr zufrieden. Die nächsten beiden Vorstellungen sind als ausverkauft angezeigt; es gibt La Traviata aber noch insgesamt zwölf Mal bis zum 9. Mai 2014. Der Premierenabend wurde vom Hessischen Rundfunk direkt übertragen.

Manfred Langer, 08.12.13 Fotos: Barbara Aumüller