Darmstadt: „The Turn of the Screw“

Hautnahes Kammertheater

In den Kammerspielen: zweite Aufführung am 19.02.2014 (Premiere am 15.02.14)

Zwischen Schauerromantik und Psycho-Thriller

Henry James (1843-1916) war ein amerikanischer Schriftsteller, dessen Erzählung „The Turn of the Screw“ 1898 als Fortsetzungsstücke erschien. Er liebte Gespenstergeschichten wie diese; eine Art verspäteter amerikanischer ETA Hoffmann, aber mit einer Weiterung in psychologische Räume, gewissermaßen in die Freudsche Welt von Bewusstseinsspaltungen und -verschiebungen mit verschiedenen Bewusstseinsebenen. Die Kritikerin und Schriftstellerin Myfanwy Piper (1911-1997) hat die letzten drei Opern Benjamin Brittens librettiert, so auch The Turn of the Screw und bleibt sehr nahe beim Kern der Handlung. Nach einem kurzen Prolog folgen komprimiert zwei Akte in jeweils acht Szenen. The Turn of the Screw ist in den letzten Jahren zu einer der meistgespielten Opern von Benjamin Britten avanciert. Die Uraufführung fand 1954 im Teatro la Fenice in Venedig statt; es spielte das Kammerensemble The English Opera Group unter der Leitung des Komponisten; die Partie des Quint sang Peter Pears.

Für sechs Sänger und dreizehn Instrumentalisten gesetzt, wird das Werk nicht zu unrecht als chamber opera bezeichnet. Meistens wird es aber in normalen Opernsälen gegeben. Am Staatstheater Darmstadt wurde es nun in den Kammerspielen inszeniert, in einem großen variablen Bühnenraum mit keinerlei Bühnentechnik und einer Tribüne von nur 120 Plätzen. Da das Orchester an der Seite halb verdeckt sitzt, kann man als Zuschauer das szenische Geschehen hautnah miterleben, was den besonderen Reiz von Kammerspielen ausmacht. Die vielfältigen deutschen Übersetzungen des Operntitels (Das Durchdrehen der Schraube, Die Drehung der Schraube, Schraubendrehungen, Bis zum Äußersten, Das Geheimnis von Bly; Die sündigen Engel; Die Besessenen) werden heute nicht mehr verwendet, obwohl sie jeweils Subtexte beinhalten. In Darmstadt wird die Oper in der neueren deutschen Übersetzung von Constanze Backes gegeben, aber unter Beibehaltung des englischen Originaltexts.

Die Gouvernante (Susanne Serfling) trifft ein – beäugt von Flora (Samantha Gaul)

Hausregisseur und Spielleiter Lothar Krause hat die Inszenierung übernommen und bis auf einige (unnötige) plakative Elemente und streckenweise einer gewissen „Biederkeit“ eine solide, stringente, teilweise sogar spannende Arbeit abgeliefert. Die der Oper inhärenten homoerotischen und heute vielfach inszenierten Andeutungen von Knabenmissbrauch lässt er bis auf eine zweideutige Szene außen vor und konzentriert sich auf die drei Hauptfiguren der Gouvernante, des Knaben Miles und des Untoten Quint. Krause gelingt bis in die achte Szene eine stete Steigerung des aufziehenden Unheils, das wie in einem Akt-Finale in der gespenstischen Nachtszene des achten Bilds kulminiert. Nach der Pause dominiert der Verfall der Gouvernante, die mit den Kindern nicht mehr fertig wird, der Haushälterin Mrs. Grose nicht mehr vertraut und offensichtlich halluziniert, weil sie die Untoten Quint und die ehemalige Haushälterin Miss Jessel sieht und hört, die den anderen nicht erscheinen.

Bei der Figurenzeichnung geht die Regie einigen neuen Einfällen nach. Um die Überforderung der Haushälterin Mrs. Grose zu beglaubigen, wird diese in einen Rollstuhl gesetzt, was aber platt wirkt und dramaturgisch unlogisch ist. Dazu verpassen ihr Maske und Kostümbildnerin (Bühne und Kostüme: Nora Johanna Gromer) mit strengem Mittelscheitel und Brille ein Aussehen, als ob sie die Gouvernante wäre. Mit der Darstellung der attraktiven Miss Jessel als schwangerer Frau wird ein Hinweis gegeben, warum sie wohl ins Wasser gegangen war, ehe sie als Untote wieder in ihre alte Wirkungsstätte Einzug nahm. Peter Quint, der frühere Hausdiener, der mit Miss Jessel verschwunden war, tritt als attraktive Gestalt mit roter Frackjacke über nacktem Oberkörper auf. Die ältere Schwester Flora scheint fast zu alt dazu, dass Sie immer mit einer großen Puppe auftritt, die sie mit Nadelstichen peinigt.

Gespenstische Nacht: Miss Jessel (Anja Vincken), Miles (Aki Hashimoto), Peter Quint (Lasse Penttinen), Flora (Samantha Gaul)

Da ist also etwas nicht in Ordnung in diesem Haushalt. Darauf verweist auch das Bühnenbild. In einem großen rechteckigen Raum, der von halbdurchsichtigen türkisenen Stellwandelementen begrenzt ist, steht auf einem Podest ein englischer Ohrensessel, davor ein Flügel, dessen Hinterbein weggebrochen ist. Das sieht anders aus als die heile Welt auf dem alten Familienfoto hinten, als Vater und Mutter noch lebten und die Kinder Flora und Miles umsorgen konnten. Die Wandelemente sind beweglich und werden gegen Enden zu einem immer engeren Raum um Podest und Flügel zusammen geschoben. In dem Flügelkasten verschwinden gegen Ende zeitweise Miles und Quint, der von Miles kurz danach als „Teufel“ apostrophiert wird. Eine einzige kalte und flache Szene für das Thema Pädophilie und Missbrauch, welches die ganze Oper durchzieht. Dass auf einigen der Wandelemente Blut herunter läuft, mit dem man trefflich herumschmieren kann, gehört zu den überflüssigen Zutaten der Regie.

Die Deutungsversuche und -möglichkeiten der Geschichte von Henry James sind vielschichtig und reichen von Gespensterromantik bis zu freudianischen Ausleuchtungen, die seit den 20er Jahren dominieren. Verletzt die Gouvernante in ihrem Ehrgeiz die Kinder, die renitent werden? Welche Rolle spielt eigentlich die Haushälterin Mrs. Grove? Sind in den Gespenstern nicht auch die sozial Unterdrückten der Vergangenheit zu sehen und in den Kindern der Überrest der „feinen“ dekadenten Gesellschaft, alleingelassen von dem Vormund, der sich freigekauft hat? Wer sieht und hört was? Spinnt die Gouvernante oder auch die Kinder? Myfanwy Pipewr und Benjamin Britten bieten keine Erklärungen an; auch die vorliegende Regie nicht. An sich sind in der Geschichte nur der Anfang und das Ende real: die wirkliche Ankunft der Gouvernante in Bly und die finale Szene, in der sie den toten Miles in ihren Armen hält. Dazwischen ist alles unklar, vielleicht halluziniert, vielleicht real. Die Regie lässt aber auch das Ende offen: die Kinder und Quint scheinen durch einen der halbtransparenten Raumteiler höhnisch auf die Gouvernante zu schauen. War das Ganze gar nur ein Albtraum der Gouvernante? Sie hatte sich im Laufe der 16 Szenen von der zwar etwas ängstlichen, aber zuversichtlichen und adrett gekleideten, ehrgeizigen und erfolgswilligen Gouvernante in eine völlig verstörte Person mit wirrem Haar gewandelt – und eine Szene ließ sie der Regisseur tatsächlich schlafend auf der Bühne durchstehen.

Gespenstisch: Miss Jessel (Anja Vincken)

Britten hat die Partitur für 13 Instrumentalisten gesetzt, die insgesamt mit einem breit aufgestellten Schlagwerk und einer größeren Zahl an Holz 28 Instrumente zu bedienen haben. Die Mitglieder des Staatsorchesters saßen halb verdeckt auf dem linken Bühnenteil und musizierten unter der Leitung von Michael Cook. Das Ensemble verstand, ein breites Spektrum von sehr differenzierten Soli bis zu dicht gesetzten Tutti abzudecken. Es erreichte einen präzise sezierten Klang einerseits, beeindruckte mit den kurzen Interludien und dem immer mehr zusetzenden programmatischen Schraubenthema. Die transzendierenden Töne der Celesta schienen die begleiteten Szenen auf der Bühne der Realität zu entheben, und flackernd erratischen Holzbläsersequenzen verliehen dem Gespenstischen besondere musikalische Farben.

In der nicht unproblematischen, sehr trockenen Akustik der Kammerspiele gelangte das Orchester mit seiner teilweisen Abdeckung zu einem recht runden Klang. Den Sängern kam die Akustik weniger entgegen. Außer dem Prolog/Quint sind alle Partien für Frauenstimmen gesetzt, die naturgemäß in den hohen Passagen der Ariosi keine gute Textverständlichkeit erreichen, wozu auch die deutsche Übersetzung beiträgt, deren Prosodie nicht so passgenau auf die Musik passt wie umgekehrt die Musik auf den Originaltext. So blieben leider in Abwesenheit von Übertiteln etliche Passagen textlich zu wenig verständlich.

Keine intakte Familie: Mrs. Grose, Haushälterin (Elisabeth Auerbach), Die Gouvernante (Susanne Serfling), Miles (Aki Hashimoto), Flora (Samantha Gaul)

Auf die Tenorpartie von Lasse Penttinen traf das nicht zu. Stimmlich überzeugte er vom Vortrag der Prolog-Rolle zur trockenen Klavierbegleitung bis zu seinen sehnsüchtig-verführerischen „Miles! Miles!“-Rufen als Peter Quint, dem er auch darstellerisch mit erotischer Ausstrahlung Profil verlieh. Susanne Serfling als Gouvernante kam zuerst mit der Raumakustik nicht zurecht und überzog in jugendlich-dramatischem Ansatz. Später fand sie über ein einschmeichelndes Parlando und zurückgenommene Ariosi viel besser in die Erfordernisse des Kammertheaters. Eine Idealbesetzung für Kinderrollen ist natürlich immer wieder die zierliche Aki Hashimoto, die das Publikum als Miles mit feinem, sauber geführtem Sopran und auch darstellerisch begeisterte. Es war sicher für ihre rührende Interpretation des Malo-Liedes, dass sie zum Schluss mit den meisten Beifall bekam. Auch mit Samantha Gaul stand als „große Schwester“ Flora eine zierliche Sopranistin für die zweite Kinderrolle zur Verfügung; auch sie konnte vokal mit Klarheit und Präzision überzeugen und setzte die Charakterisierungen der Regie gekonnt um. Letzteres tat auch Elisabeth Auerbach in der etwas seltsam gestalteten Rolle der Mrs. Grose, der sie ihren klaren, recht hellen Mezzo verlieh. Anja Vinckens warmer, leicht eingedunkelter Sopran passte bestens zur Rolle der Miss Jessel, die die kleine Flora umgarnte.

Es gab lang anhaltenden herzlichen Beifall für den Opernabend. Es verwundert aber, dass bei „The Turn of the Screw“, die an anderen Häusern große Opernsäle füllt, mit der so ansprechenden und direkt wirksamen Kammerspiel-Aufführung wie der in Darmstadt in dem kleinen Saal noch etwa 20 Plätze unbesetzt blieben. Das „normale“ Opernpublikum fühlt sich nicht angesprochen? Man hat noch vier Mal Gelegenheit die Produktion zu besuchen: am 7., 26. und 30.3 sowie am 23.5.14.

Manfred Langer, 21.02.2014 Fotos: Barbara Aumüller