Gießen: Düsterer „Macbeth“ für 11 Musiker

Premiere: 05.09.2020, besuchte Vorstellung: 23.10.2020

Wer bietet weniger…

Lieber Opernfreund-Freund,

Corona-Beschränkungen machen nicht nur eine Dezimierung der Zuschauer im Theater erforderlich, auch im Graben sollen sich nicht mehr so viele Musiker tummeln. Deshalb scheinen sich die Häuser derzeit beinahe unterbieten zu wollen, was die Orchestrierung beispielsweise der Werke von Giuseppe Verdi betrifft: neben einem Otello in Regensburg für 21 Musiker und einem Trovatore für 14 am Saarländischen Staatstheater (der „Opernfreund“ hat natürlich über beide Produktionen berichtet) gibt es derzeit einen Macbeth am Stadttheater Gießen zu sehen und in der akustisch wohl gewöhnungsbedürftigsten Version auch zu hören: Arno Waschk hat dem Percussionisten bei seiner Orchestrierung für nur noch 11 Musiker neben Pauke und Schlagwerk auch ein Xylophon zur Verfügung gestellt, für klangliche Fülle sorgt ein Akkordeon.

Doch zunächst kurz zur Szene: das düstere Konzept von Georg Rootering hat sich mühelos den neuen Gegebenheiten anpassen lassen; zwar ist die Anzahl der Hexen auf acht geschrumpft, doch wird die kleine Schar durch die schon von Verdi vorgesehene stumme Rolle der Hecate ergänzt, der Göttin der Nacht und der Hexerei, die omnipräsent umhertanzt (toll: Inga Schneidt) und das Geschehen nicht nur beobachtet, sondern immer wieder vorantreibt, entweder selbst oder durch ihre knochenwerfende Hexenschwester Lady Macbeth, mit der Sie nicht nur die schwarzen Federn am Kostüm teilt. Die dunkel gestaltete Drehbühne ist oft in Bewegung, der blutige Aufstieg von Macbeth zeigt sich schon in entsprechenden Farbakzenten auf der Treppe; überhaupt ist abgesehen vom eher deplatziert wirkenden orangenen Dress der Lady im zweiten Akt ein ausgeklügeltes Farbkonzept Teil des Regieansatzes. Rot ist beinahe die einzige Farbe, die Regisseur Georg Rootering und Kostüm- und Bühnenbildner Lukas Noll uns gönnen, fast klerikal anmutendes Violett schmückt Banco und Macduff. Gelungen und nicht überbordend sind die feinen schottischen Highlights in der Garderobe der Protagonisten, bedrohlich das tiefe Schwarz, in das man ansonsten alles taucht. Die Spuren von Macbeths Mordlust werden nur mühsam durch Tücher kaschiert, dessen Machthunger sich mehr und mehr zum Wahn ausprägt. Dem scheint seine Gattin schon von Beginn an verfallen, fast obligatorisch wird von der Regie nicht erfülltes Mutterglück dafür verantwortlich gemacht. Rootering und Noll deuten viel an, lassen dem Zuschauer Raum für eigene Interpretation, lediglich die letzte Szene samt Axtschleudern und vom Band eingespielten Maschinengewehrsalven gerät allzu archaisch. Insofern ist die Lesart nichts Neues – und dennoch schlüssig und durchaus gelungen.

Ein nicht ganz so glückliches Händchen hat man in Gießen bei der Besetzung. Die hochdramatische Katrin Kapplusch stattet die Lady mit einer beinahe schmerzhaften Schärfe in der Höhe aus und kann kaum davon lassen, die komplette Partie in Schrillheit zu ertränken, findet allzu selten leise Töne und überzeugt dabei doch am meisten. Das ist schade, zeigt die Sängerin doch die darstellerisch packendste Leistung des Abends, an die nicht einmal der durch die Bank mehr als überzeugende Grga Peroš als Macbeth herankommt. Das Ensemblemitglied präsentiert die tragische Titelfigur mit glutvollem Bariton und außergewöhnlich intensivem Spiel und trägt so ebenso zum musikalischen Gelingen des Abends bei wie Matthew Anchel als stimmgewaltiger Banco und Ewandro Stenzowski, der als Macduff reichlich tenoralen Glanz versprüht. Der grandiose Tomi Wendt als Arzt und die hinreißende Naroa Intxausti als Kammerfrau sind wahre Luxusbesetzungen, während Jun-Sang Han als Malcolm mir mit seinem einprägsamen Tenor imponiert.

Die Chöre scheinen beinahe solistisch besetzt, so dass sich die genaue Arbeit bei der Einstudierung, für die Jan Hoffmann und Martin Spahr verantwortlich zeichnen, besonders auszahlt. Letzterer hält am vergangen Freitag auch die elf Musiker bei Laune, die in dieser klanglich mitunter fremd erscheinenden Version im Graben verblieben sind. Auch hier kann sich niemand hinter Instrumentalistenkollegen verstecken. Doch alle meistern die Gratwanderung zwischen dem Wunsch nach klanglicher Fülle und präzisem Musizieren, das Akkordeon fügt sich mühelos in die Reihe der „klassischen“ Instrumente ein, vermag sogar mehr Volumen zu erzeugen als beispielsweise ein Klavier dies könnte. Das zarte Xylophon hat vor allem in den gespenstischen Szenen seinen großen Auftritt, ruft bei mir allerdings größeres Befremden hervor als das Akkordeon – aber das ist, so erklärt Arno Waschk im informativen Programmheft, durchaus gewollt. Martin Spohr überzeugt mit einem forschen Dirigat, das den klanglich neuen Akzenten der Orchestrierung ebenso zu ihrem Recht verhilft, wie dem von Verdi gewünschten Charakter des Werks.

Das Publikum in Gießen habe ich schon immer – man verzeihe mir hier diesen persönlichen Eindruck – als außerordentlich klatschfaul erlebt und das ist auch bei dieser Aufführung nicht anders; deshalb vermag ich nicht zu sagen, ob die teils fremden Klänge auf ungetrübte Begeisterung oder eher verhaltenes Echo gestoßen sind. „Freundlich interessiert“ würde ich die Reaktion zusammen fassen und wenn auch Sie, lieber Opernfreund-Freund, zu den Freundlich-Interessierten gehören, wenn Sie sich auf neue Klänge einlassen und dabei eine vielleicht bekannte Partitur neu entdecken mögen, ist dieser Macbeth mit Sicherheit etwas für Sie.

Ihr
Jochen Rüth

28.10.2020

Die Fotos stammen von Rolf K. Wengst.