Gießen: „Wer, wenn nicht wir – Die Schwätzer in Gießen“

Bericht von der Premiere am 26.10.2019

Wenn nicht wir, dann auch bitte sonst niemand!

In Gießen stürmen die drei Stadtsymbole, DIE SCHWÄTZER, die Bühne. Eine Operetten-Revue mit der Musik von Jacques Offenbach sollte dem mittelhessischen Stadttheater im regionalen Patriotismus alle Ehre machen. An diesem Abend jagte vom „Elefantenklo“ bis zum „Schwanenteich“ ein Witz mit lokalem Bezug den nächsten.

Die Operette Les Bavards von Jacques Offenbach wurde 1862 in Bad Ems uraufgeführt und spielte im Original in Saragossa. Regisseurin Astrid Jacob, die in Gießen schon für ihre Schmachtigallen-Inszenierung bekannt ist, verlegt ihre Aufführung auf eine „Probebühne“ nach Gießen. Hier zeigt sich ein künstlicher Probenablauf, der von den drei „wahren“ Schwätzern modernisiert werden will. Aus der spanischen Brücke wird kurzer Hand das "Elefantenklo" (für alle Nicht-Gießener: das ist der Spitzname einer überdimensionierten Fußgängerüberführung am Eingang der Gießener Fußgängerzone mit drei sinnfreien Öffnungen über einer Kreuzung, die an ein Plumpsklo erinnern).

Eine inszenierte Einmischung von Außen stört den so „originalgetreu“ wie möglich gehaltenen Szenenablauf. Die Gießener Schwätzer, Mariechen (Karola Pavone), Waldemar (Tomi Wendt) und Justus (Christian Richter), sitzen im Publikum und pöbeln los. Sie sind der Meinung, das Theaterhaus besetzen zu müssen und am besten dem gesamten System mal so richtig neu einzuheizen. Denn wenn es ums „Schwätzen“ geht (frz. bavasser) sind ja wohl sie die Experten. Und sie meinen zu wissen, auch ein Offenbach hätte verstanden, dass dessen Werk für das Publikum modernisiert auf die Bühne gebracht werden muss. Bestätigung erhalten sie sogar ganz symbolträchtig von dem auf einer Wolke herunter schwebenden Jacques Offenbach höchstpersönlich.

Es hätte ein bunter, unterhaltsamer Abend werden können, wenn sich nicht der Klamauk in der Polemik verfangen hätte. Astrid Jacob, die das Bühnengeschehen immer wieder unterbricht, indem sie als Regisseurin sich selbst spielend dazwischen geht, macht ihre Rolle ungeschickter Weise dadurch unbrauchbar. Eine Regisseurin, die ihren eigenen Machtanspruch auf die Schippe nimmt, ist nicht selbstironisch, sondern schlicht zynisch und unglaubwürdig. Und wenn im gespielten Spiel die Theaterhierarchie kritisiert wird (indem behauptet wird, das System sei eine Diktatur), dann ist dies Polemik auf tiefstem Niveau. Wer lacht, hat die Macht!

Wichtige kulturpolitische Themen, wie die Kulturförderung, das Theatersystem und Genderdebatten, setzt sie der Verspottung aus. Das Mariechen muss immer laut das „In“ von Schwätzerin hervorheben. Die Regisseurin betont auf der Bühne, dass es nicht darauf ankomme, dem Publikum zu gefallen, sondern das musikalische Werk in seiner Kunstform zu erhalten. Und Béatrix wird ermahnt, dass sie als Darstellerin zwar mitdenken dürfe, aber dann doch die Klappe zu halten habe. Das sind alles kulturrelevante Probleme, die vielleicht von schwarzem Humor, aber nicht von Flachwitzen getragen werden können.

Dieser Musikantenstadl, der mit einem Potpourri aus Offenbachschen Evergreens beim Publikum punkten kann, verliert den glaubhaften Witz, sobald wieder gespielte Wahrheiten verkündet werden. Die Frauen-gegen-Männer-Gags haben keinen Halt, solange sie nicht nachvollziehbar in das Geschehen eingebettet werden. Inhalts- und zusammenhangslos jagt eine Nummer die nächste. Der rote Faden, wie er im Programmheft von „Schwätz 1 bis 10“ gezogen wird, verliert sich leider durch die ständigen Unterbrechungen der Regisseurin oder der drei Schwätzer. Dabei kommt es an diesem Abend nicht einmal unbedingt auf Inhalt an. Gießener Symbole und hessischer Patriotismus werden mit Gewalt in die Geschichte gepresst. Es wird mit lautem Geschwätz und Schenkelklopfern nach Mario-Barth-Manier hantiert. Schade um die Musik – Jacques Offenbach kann einem schon Leid tun… Die Arrangements von Thomas Guthoff lassen die Musik mitunter selbst etwas dahin „schwätzten“ und die Übergänge von den Sprechtexten zu Offenbachs Musiknummern sind eher holprig. Aber ein paar schöne Musikstücke zum Schunkeln finden sich auch darunter, gespielt vom wohlklingenden Philharmonischen Orchester Gießen unter dem sicheren Dirigat von Andreas Kowalewitz.

Nun darf allerdings die Arbeit der anwesenden Darstellerinnen und Darsteller nicht vergessen werden. Sie sind es, die mit ihrem Talent zum Spiel und ihrer wirklich guten Performance dem Abend sein durchaus vorhandenes künstlerisches Niveau verleihen.

Karola Pavone als Mariechen/Schwätzerin hat einen natürlichen Charme und ein ernstzunehmendes Können für Witz und Humor. Béatrix, gespielt und gesungen von Annette Luig, hat eine frische Stimme, die den holprigen Operettentexten Leichtigkeit verpasst. Ihrem Ehemann Sarmiento gehört die Stimme des Abends. Der volltönende Bassbariton von Christian Tschelebiew ist in dieser Partie leider viel zu selten zu hören. Die musikalischen Nummern von Offenbach bieten so regelmäßig Erholung von der aufgesetzten Rahmenhandlung. Richtige Freude kommt immer auf, sobald mal ein paar Minuten gesungen wird und die schönen Stimmen des Ensembles erklingen.

Die Laune steigert sich noch mit den Auftritten der Tänzer und Tänzerinnen der Tanzcompagnie Gießen. Diese versprüht in der wirklich detailverliebten Choreografie von Tarek Assam viel Witz und gewinnt so die Herzen des Publikums. Auch über den Chor und Extrachor des Stadttheaters Gießen können nur lobende Worte gefunden werden. Die Freude darüber, ihn mal wieder in längeren musikalischen Passagen auf der Bühne zu sehen, wird noch von der Energie und Spielfreude jedes einzelnen Choristen gesteigert.

Was bei der ganzen Pointensuche auf der Bühne völlig unterbelichtet bleibt, ist die Liebesbeziehung von Solange und Inès, eine echte homosexuelle Emanzipationsgeschichte. Diese rührende Liebe geht leider im gesamten Heiterkeitsspektakel unter. Trotzdem waren die beiden Frauen, Sophia Pavone als Solange und Carla Maffioletti als Inès, bezaubernd in ihren Rollen als Spielbälle der Obrigkeit. Sophia Pavones warmer Mezzo unterstreicht dabei Offenbachs lyrische Töne. Im Duett der Baccarole vereint sich ihr Klang mit der leichten Sopranstimme von Carla Maffioletti zu einem Moment großer Kunst.

Das Motto des Abends könnte ungefähr so lauten: Ich darf das, denn ich mache Theater!

Das war kein augenzwinkernder Spaß, sondern vielmehr eine blinde Farce.

Dominique Suhr, 27.10.2019

(c) der Bilder: Rolf K. Wegst