Michael Demel, 12. Februar 2019, Bericht von der Premiere am 22. Dezember 2018
Ein toller Abend mit Mozarts „tollem Tag“
Mal im Vertrauen unter uns Opernkennern: Könnten Sie so ohne Weiteres die verwickelte Vorgeschichte von Mozarts Hochzeit des Figaro erzählen? Die Sache mit Bartolo und Rosina, Figaros Vertrag mit Marcellina, wie der Barbier von Sevilla zum Kammerdiener wurde und was das alles mit dem Grafenpaar zu tun hat? Am Stadttheater Gießen machen sie aus dem komplizierten Beziehungsgeflecht eine hübsche Pointe. Die ersten Spielszenen sind locker und schwungvoll bewältigt, da treten Bartolo und seine Haushälterin Marcellina vor den heruntergelassenen Vorhang und spulen Rezitative ab, selbstverständlich auf Italienisch, der Originalsprache dieser Oper. Was aber sagen sie? Die Übertitelanlage scheint defekt zu sein, oder der Inspizient ist eingeschlafen. Na ja, denkt man sich, kann mal passieren. Da bricht Marcellina ab und wendet sich auf Deutsch dem Publikum zu. Das sei ja alles sehr verwickelt und man werde das jetzt mal erklären. Es folgt, immer noch auf Deutsch, ein launiger Dialog zwischen Bartolo und Marcellina, der das Publikum pointenreich ins Bild setzt. Dann geht es auf Italienisch weiter (natürlich mit deutscher Übersetzung in den Übertiteln).
Tomi Wendt (Bartolo) und Heidrun Cordes (Marcellina)
So etwas könnte aufgesetzt wirken. Ist es aber nicht. Denn der Einschub kam genau zur richtigen Zeit. Derartige überraschende Einfälle gibt es an dem Abend immer wieder. Sie überdecken aber nicht das eigentliche Spielgeschehen, sondern wirken als Salz in der Suppe. Regisseur Thomas Goritzki hat immer ein feines Gespür für die richtige Dosis: die richtige Dosis Slapstick, die richtige Dosis Lockerheit, die richtige Dosis episches Theater und die richtige Dosis Werktreue.
Das von Heiko Mönnich dafür erdachte Bühnenbild präsentiert als Spielfläche eine Holzscheibe, auf der es nur weniger Requisiten bedarf, um mit einem enorm spielfreudigen Ensemble ein turbulentes Treiben zu entwickeln, welches das Publikum ohne Leerlauf über drei Stunden auf das Beste unterhält. Die ebenfalls von Mönnich entworfenen Kostümen orientieren sich an Vorbildern der Mozart-Zeit. Das wirkt erfrischend nach all den Aktualisierungen der vergangenen Jahre, bei denen Darsteller in modernen Straßenanzügen in Designer-Wohnzimmern etwas herbeizwingen mußten, was Opernkritiker mit intellektueller Attitüde gerne „brennende Aktualität“ nennen.
In Gießen behaupten sie dagegen keine „Aktualität“, sondern präsentieren geradezu mustergültig die Zeitlosigkeit eines Meisterwerks. Für die Musik gilt schon lange, daß man Werke des 18. Jahrhunderts „historisch informiert“ aufführen muß. Goritzki und Mönnich zeigen, daß dies auch bei der szenischen Umsetzung keineswegs eine Rückkehr zu Opas verstaubtem Theater mit seinem Ausstattungsplunder bedeuten muß, sondern mit unangestrengter Frische geschehen kann. Allenfalls könnte man kritisieren, daß bei diesem Feuerwerk der guten Laune die der Vorlage von Beaumarchais inhärente und zur Entstehungszeit brisante Kritik am Feudalismus unter die Räder kommt. Daß die Auflehnung des Dieners gegen das Recht der ersten Nacht seines Dienstherrn von den Zeitgenossen als politisch revolutionär wahrgenommen wurde, ist aber für heutige Zuschauer allenfalls eine interessante Hintergrundinformation. Das Wesen seines Erfolgsstückes hatte Beaumarchais mit dessen Titel zum Ausdruck gebracht: La folle journée – ein toller Tag. Und diesem Wesen von Mozarts Opernadaption der berühmten Vorlage wird die Gießener Produktion vollauf gerecht.
„Historisch informiert“ ist auch das, was Michael Hofstetter mit seinen gut aufgelegten Musikern im Orchestergraben erklingen läßt: farbiger und transparenter Orchesterklang mit vibratolosem Spiel der Streicher, beredt phrasierenden Holzbläsern, knackigem Blech und prasselnden Pauken. Die Rezitative bekommen durch phantasievolle Ausgestaltung das ihnen gebührende Gewicht und lassen Orchestergraben und Bühne zu einer organischen Einheit verschmelzen. So genau kalkuliert das alles ist, wirkt es doch selbstverständlich locker und mitunter geradezu improvisiert.
Die Darsteller haben an dieser Inszenierung ersichtlich großen Spaß, der sich unmittelbar auf das Publikum überträgt. Zudem bieten sie ausnahmslos gute, zum Teil sogar bemerkenswerte Gesangsleistungen. Alexander Hajek zeichnet die Titelrolle mit kernigem Bariton. Er verfügt zwar über kein allzu großes Stimmvolumen, macht dies aber durch eine umwerfende Bühnenpräsenz und differenzierte Textbehandlung mehr als wett. Ihm zur Seite steht die quirlige Naroa Intxausti als seine Braut Susanna mit hellem und beweglichem Sopran. Auch das Grafenpaar ist mit Grga Peroš und Francesca Lombardi Mazzulli rollendeckend besetzt. Die Mazzulli irritiert zunächst mit einigen steifen Tönen, kann sich aber schnell frei singen und überzeugt mit einem ergreifenden Porgi, amor. Die sängerische Krone aber gebührt Marie Seidler, die mit ihrem frischen Mezzosopran einen leidenschaftlich glühenden Cherubino gibt.
Naroa Intxausti (Susanna) und Marie Seidler (Cherubino)
Das Publikum bedankt sich für einen unbeschwerten Mozart-Abend aus einem Guß mit begeistertem Beifall.
Weitere Vorstellungen gibt es am 18. Januar, 16. Februar, 10. und 31. März, 18. April, 18. Mai sowie am 1. und 28. Juni.
Michael Demel, 12. Januar 2019
© Bilder: Rolf K. Wegst