Gießen: „Mirandolina“, Bohuslav Martinů

Premiere am 30.03.2014

Komödienverweigerung

Nichts zu lachen: Regisseur Zholdak scheitert an Goldonis Komödie und Martinůs schwachem Textbuch

1753 wurde Carlo Goldonis Komödie La locandiera uraufgeführt, eines seiner erfolgreichsten Stücke, das noch heute vielfach auf den Spielplänen vor allem kleinerer Theater anzutreffen und beliebt bei Schulaufführungen ist. In Deutschland wird es unter dem Namen „Die Wirtin“ oder auch unter deren Eigennamen „Mirandolina“ gegeben. Mindestens sechs Veroperungen sind verbürgt unter anderem von Antonio Salieri und Johann Simon Mair. Die Handlung ist einfach, ohne große Verwicklungen; das Stück muss von Situationskomik leben. Mirandolina betreibt mit ihrem Kellner Fabrizio ein Gasthaus. Dort haben sich auch zwei adlige Verehrer der Wirtin einquartiert, weil sie auf ein erotisches Abenteuer mit Mirandolina aus sind. Der reiche Graf Albafiorita will Mirandolina kaufen, der verarmte Marchese Forlimpopoli bietet ihr „Schutz“, Wärme und Nähe an. Der dritte Gast ist der Cavaliere Ripafratta, der die Frauen mit ihren Lügen und Listen (Topos des italienischen settecento!) durchschaut hat und nichts mehr von ihnen wissen will. Gerade den wickelt nun Mirandolina durch besonderen Service und Freundlichkeit um ihren Finger, so dass er sich schlussendlich in sie verliebt und sie als Frau begehrt. Zwei Wanderschauspielerinnen, Hortensia und Dejanira, die sich als vornehme Damen ausgeben, aber alsbald durchschaut werden, vervollständigen ohne besonderen dramaturgischen Impakt das Personaltableau. Schließlich aber findet Mirandolina zu ihrem Kellner, der sich zwischendurch aus Standesgründen verschmäht fühlte.

Bohislav Martinů (1890 – 1959) kam nach musikalischen Lehr- und Wanderjahren über Frankreich und sein Exil in den USA nach Europa zurück und erhielt von der Guggenheim-Stiftung einen Opernauftrag. Er wählte den Mirandolina-Stoff zur bisher letzten Komposition des Stoffes und schrieb sich sein Libretto selbst, auf Italienisch mit der Beratung entsprechender Muttersprachler, da er selbst nur über unzureichende Kenntnisse dieser Sprache verfügte. 1954 war das Werk, eine seiner letzten Opern, fertig. 1959 wurde es am Nationaltheater in Prag uraufgeführt. Die Oper ist ein Fremdkörper auf den Bühnen geblieben, wenn auch seit ihrer „Wiederentdeckung“ 2002 auf dem Opernausgrabungsfestival in Wexford/Irland wieder Interesse an dem Werk zu beobachten ist. Am 30. April wird Mirandolina in einer kammermusikalischen Bearbeitung vom Opernstudio der Bayerischen Staatsoper im Cuvilliés-Theater (Inszenierung: Christian Stückl) herausgebracht.

Eric Laporte (Conte Albafiorita); Francesca L. Mazzulli (Mirandolina); Calin Val. Coza (Marchese Forlimpopoli)

Das Stadttheater Gießen programmierte nun als Deutsche Erstaufführung die italienischsprachige Originalversion des Werks vor und verpflichtete als Regisseur den ukrainischen Theaterstückezertrümmerer Andriy Zholdak (Andrij Scholdak) gewonnen, der heute in Berlin arbeitet. Was kann man aus einem solchen Stück nun machen, wenn einem die komödiantische Ader nicht gegeben ist? Zholdak hätte besser die Finger davon gelassen! Sicher hat schon Martinů keine besonders glückliche Hand bei der Straffung des Stoffes zu seinem Libretto gehalten, das nun über eine recht lineare Handlung ohne wirklich interessante Verwicklungen verfügt. Die zwei fahrenden Schauspielerinnen wirken verloren in der Handlung (Die hatte übrigens Salieri durch eine Angestellte der Wirtin ersetzen lassen, was natürlich sofort zu interessanteren Aspekten führt.) Immerhin hat das Originalstück von Goldoni eine Art Botschaft: Schlauheit und List der Frau siegen über Einbildung, Dünkelhaftigkeit und Hartnäckigkeit der vornehmen Herren.

Francesca Lombardi Mazzulli (Mirandolina); Ralf Simon (Fabrizio)

Die Inszenierung von Zholdak hat indes keine erkennbare Botschaft. Die entwickelt noch nicht mal so viel Vorstellungskraft, dass man die ganz Bühne für seine Inszenierung benötigt hätte; vielmehr spielt sich alles auf einem drei bis vier Meter breiten Streifen der Vorderbühne ab. (Das Bühnenbild hat er selbst entworfen und zusammen mit dem Gießener Ausstattungsleiter Lukas Noll samt den Kostümen im heutigen Schnitt umgesetzt.) Als Extra bietet er stete Videoprojektionen aus den rumpelkammerartigen Nebenräumen der seitlichen Bühnenabgänge und zeigt die Akteure, wie sie dort abgetreten sind oder auftreten werden. Der Bühnenraum verfügt links über eine schön renovierte hohe klassische Tür, rechts ist der Ausgang noch von verfallender Patina. An der Hinterwand ein kleines Kruzifix-Bild. Mangels einer wirklich interessanten Handlung oder einem Feuerwerk komödiantischer Regieeinfälle, die dem Stoff des 18. Jhdts. angemessen wären, sucht der Regisseur ein im Libretto nicht vorhandenen kritischen gesellschaftsanalytischen Gegenwartsbezug, den er vielleicht aus dem Katholizismus der südböhmischen Heimat des Komponisten herleitete. Er fügt sechs stumme Mitstreiter ein (Dienstmädchen der Locanda, Engel, Jünglinge, Alter Mann) die in vielen Szenen in wechselnden Rollen doppelnd zeigen, was die eigentlichen Akteure gerade tun oder gerade liebend gern getan hätten. Wenn es diesbezüglich gerade nichts zu zeigen gibt, dann führen sie christliche Rollenspiele aus, stehen wie gekreuzigte Figuren bewegungslos an der Bühnenrückwand, werden gar mit symbolischen Hammerschlägen an dieser festgenagelt und adoriert. Symbolik, die sich schwerlich mit dem Thema der Oper verbinden lässt und zu der noch andere statische symbolische Zutaten treten, über deren Sinnhaftigkeit man sich erst im Handbuch erkundigen müsste, um dann auch nicht lachen zu können.

Auch die vielen Regiemätzchen erzeugen keine Heiterkeit. Dass – um im Bilde der christlichen Symbolik zu bleiben – ein „Alter Mann“, der sich unzählige Male über den Schnurrbart streicht in den beiden ersten Akten wie ein Küster einer Kirche aus den Nebenräumen weiße Blumen, Grünzeug, Früchte und andere Lebensmittel hereinträgt und damit die Bühne vollstellt und diese im letzten Akt wieder leerräumt; dass da auch ein Fischaquarium dabei ist, das auf eine Waschmaschine gestellt wird, dann auf den Boden, weil sich der Cavaliere auf die Waschmaschine setzen muss; dass zwischendurch mit Pfeil und Bogen geschossen wird, dann mit Pistolen zwei der Akteure pro forma umgenietet werden (vorübergehend erschossen!); dass eine der Schauspielerinnen einen Fuß nachziehen muss (soziales Gewissen der Mirandolina? sie stellt auch Behinderte ein!); dass eine Beratung unter den Beteiligten als Pressekonferenz gezeigt wird, zu der das Bild der Kanzlerin an die Wand gehängt wird: all das ist unwitzig und ermüdend und trägt nichts zu einer Komödie bei. Kurz: aus dem Geiste Goldonis ist das nicht geboren und nur wenig aus dem Martinůs. Dem beweist Zholdak wenigstens ein gutes Musikverständnis, denn er setzt die Musik gut in Bewegung um.

hinten: Francesca Lombardi Mazzulli (Mirandolina); Tomi Wendt (Cavaliere Ripafratta)

Der musikalische Teil stellt überhaupt den positiven Teil des Abends dar. Der Gießener GMD Michael Hofstetter führte das Philharmonische Orchester Gießen durch die sorgfältig und aufwändig instrumentierte Partitur der mit weniger als zwei Stunden reiner Spielzeit nicht überlangen Oper. Farbenreich und sehr lebendig waren die Haupteindrücke dieser als „klassizistisch“ eingestuften Musik, die eine Verbindung von musikantischen böhmischen und italienischen Elementen darstellt, einer von mehreren Stilrichtungen des vielschaffenden und wandlungsfähigen Komponisten, dessen Musik sich nicht in ein Fach stecken lässt. Daneben tönt auch Western-Musik durch; alles spritzig, flott und auch originell, aber letztlich unaufregend. Wegen der durchweg flotten Tempi war das Orchester gefordert, setzte die Motorik der Partitur mit viel Elan und Präzision um – mit nur wenigen Unkonzentriertheiten erst im dritten Akt. Besonders anregend wirkten der dritte Akt mit viel Italianità: einem Saltarello vorab und den beiden quirligen großen Ensemble-Szenen à la Rossini.

Sextett am Tisch: Eric Laporte (Conte); Calin V. Cozma (Marchese); Francesca L. Mazzulli (Mirandolina); Ralf Simon (Fabrizio); Stine Marie Fischer (Dejanira); Naroa Intxausti (Hortensia)

Das in Gießen aufgebotene Gesangsensemble befleißigte sich durchweg einer sehr ordentlichen Aussprache des Italienischen. Dennoch gewann man den Eindruck von Reibungsverlusten zwischen Sprache und Musik. Vergleicht man das mit dem perlenden Sprachfluss eines anderen großen Klassizisten, des Deutsch-Italieners Wolf-Ferrari, und dessen ebenfalls auf Goldoni fußenden Stoffen, dann ist bei Martinů der Fluss deutlich rauer. Die Titelrolle sang Francesca Lombardi Mazzulli als Gast; sie wusste ihr Publikum mit ihrem raffiniert-erotischen Spiel ebenso zu begeistern wie mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und dessen vielfältigen Farbnuancierungen. Tomi Wendt setzte das zweite Glanzlicht des Abends als Cavaliere Ripafratti. Seine jugendliche Erscheinung (warum hat Mirandolina ihm eigentlich den sauertöpfischen Fabrizio vorgezogen?) und recht vornehmes Gebaren korrespondierte mit seinem kräftigen noblen Baritonmaterial. Bronzen und von geschmeidiger Kraft ohne jede Schärfe auch beim Forcieren zeigte sich der mittel-timbrierte Tenor von Eric Laporte als Conte Albafiorita. Seinen „Kollegen“, den Marchese Forlimpopoli, gestaltete Calin-Valentin Coszma mit kräftigem, weichen Bass, der aber besser fundiert sein könnte. Der Sänger des Fabrizio (dauernd traurig dreinschauend), Ralf Simon, war erkältet gemeldet, was man ihm in seinen etwas mühseligen Höhen über einer festen baritonalen Mittellage auch anmerkte. Die beiden „Damen“ Hortensia und Dejanira waren solistisch nicht sehr gefordert. Letztere sang die junge Altistin Stine Marie Fischer mit klarer schlanker Intonation, und als Erstere war Naroa Intxausti besetzt, deren glockenreiner Sopran angenehm auffiel. Vepkhia Tsiklauri hatte als Chortenor mehr zu sprechen als zu singen und legte die Rolle auch gesanglich buffonesk an.

„Eine komödiantische Wohlgebautheit wie Martinus Mirandolina verdiente … eine belebte Bühnenkarriere – das Repertoire der Opere buffe ist nicht so riesig, als dass man auf diese Italien-Huldigung eines weltgewandten Tschechen verzichten könnte.“ (Hans-Klaus Jungheinrich). Was aber, wenn sich der Regisseur dem quasi total verweigert? Wenn bei einer Komödie (komische Oper) niemand lacht, mag das in der Intention des Regisseurs gelegen haben. Wenn aber beim Schlussapplaus der Premiere dafür noch nicht einmal jemand buht, sondern einfach nur der für die Sänger und das Orchester gedachte herzliche Applaus abstirbt, ist das die Höchststrafe eines klugen Publikums für den Regisseur, der fast fluchtartig die Bühne verließ.

Manfred Langer, 31.03.2014

Fotos: Rolf K. Wegst

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