Gießen: „Eugen Onegin“, Peter Tschaikowsky

Das Stadttheater Gießen verfügt über ein kleines, aber feines Ensemble. Die Intendanz traut ihren Sängern inzwischen zu, auch die ganz großen Partien der international etablierten Standardwerke zu bewältigen. Das ist deswegen heikel, weil man anders als bei Nischenwerken und Ausgrabungen die Interpretationen anderer Sänger im Ohr hat, oft sogar den Klang der Lieblingsaufnahme auf Tonträger. Bei Tosca und Rigoletto, zwei der wohl auf Opernbühnen meistgespielten Werke, hat das zuletzt erstaunlich gut funktioniert. Nun hat sich das kleine mittelhessische Haus mit Eugen Onegin die bekannteste russische Oper vorgenommen und auch hier sämtliche Hauptrollen aus dem eigenen Ensemble besetzt.

Grga Peroš, Jana Marković, Opernchor / © Lena Bils

Regisseurin Ute M. Engelhardt geht bei ihrer Inszenierung von der Beobachtung aus, daß bei jedem der drei Akte eine andere Hauptfigur im Mittelpunkt steht, im ersten Akt Tatjana, im zweiten Akt Lenski und im dritten erst die Titelfigur Onegin. Das ist plausibel, denn jede der drei Figuren hat in dem so zugeordneten Akt ihre zentrale Arie zu singen. Dies führt aber keineswegs zur Vernachlässigung der Nebenfiguren. Die Inszenierung ist szenisch lebendig, in der Personenführung plausibel und souverän im Einsatz von Stilmitteln wie Slow-Motion oder eingefrorenen Bewegungen. Im Bühnenbild von Lukas Noll, welches in den ersten beiden Akten ein großes Gewächshaus zeigt, formt die Regisseurin zunächst mit der darstellerisch hinreißenden Julia Araújo das differenzierte Bild einer Tatjana, die noch auf der Schwelle zum Erwachsenwerden steht. Mit ihrer Leidenschaft für Bücher erscheint sie in der sie umgebenden Gesellschaft als introvertierte Außenseiterin. Mit ihrer unglücklichen und schließlich verschmähten Leidenschaft für Onegin weiß sie zu berühren. Die Partie bewältigt Araújo technisch tadellos. Allein hätte man sich bei aller darstellerischen und musikalischen Souveränität eine Stimme mit einem wärmeren Timbre gewünscht. In der Grundanlage ist sie ein lyrischer Sopran mit sicherer Koloraturtechnik. Die Tatjana erfordert aber stärkere jugendlich-dramatische Kraft. Die junge Sängerin erkauft diese Kraft ein wenig damit, daß ihre leichte Stimme ein Moment der Härte erhält.

Julia Araújo / © Lena Bils

Michael Ha zeigt als Lenski seine bislang beste Leistung im Gießener Ensemble. Ich muß zugeben, daß ich seine Qualitäten bislang falsch eingeschätzt habe, erschien er doch als im italienischen Fach beheimatet mit einer Neigung zu kraftvoll exponierten Spinto-Höhen, eher flacher Mittellage und einer gewissen Ungenauigkeit in der Intonation. Umso größer ist nun die Überraschung: Schon beim Turteln mit Olga im ersten Akt verwendet er in geradezu elegantem Duktus einen angenehmen Bronzeton in der Mittellage und vermeidet in der Höhe allzu großen Druck. „Sein“ Akt ist tatsächlich der zweite, das hat die Regisseurin treffend analysiert. Wie schon bei Tatjana im ersten Akt muß die Regie nur das ein wenig stärker akzentuieren, was das Libretto vorgibt. Schließlich läßt sie Ha, dessen Lenski sich durch seine Eifersuchtsraserei um Kopf und Kragen bringt, inmitten der Festgesellschaft aus dem Schnürboden beregnen, bis er tropfnaß und existenziell verzweifelt sein „Kuda, kuda“ anstimmt und so überzeugend darbietet, daß das ansonsten ärgerlich unruhige Gießener Publikum endlich einmal völlig verstummt und kollektiv den Atem anhält.

Michael Ha, Jana Marković / © Lena Bils

Mit dem dritten Akt muß die Regie allerdings das Gewächshaus als Handlungsort verlassen, da das Libretto einen Zeitsprung vornimmt und von einem zufälligen Wiedersehen von Tatjana und Onegin Jahre nach dem tragischen Duell mit Lenski erzählt. Tatjana ist inzwischen mit Fürst Gremin verheiratet, den das Produktionsteam als Kriegsveteranen von hohem Rang zeichnet. Sein Gesicht ist vernarbt. Er führt eine Menge weiterer Veteranen bei der Enthüllung eines Kriegerdenkmals an. Das ist zwar optisch sehr ansehnlich in Szene gesetzt, verläßt aber die bis dahin sehr konsequent eingehaltene Linie einer Fokussierung auf die Innenschau der drei Protagonisten. Die Regie kann der Versuchung nicht widerstehen, hier aktuelle Anspielungen auf russischen Militarismus und die Unterdrückung von Menschenrechten unterzubringen. Demonstranten tauchen auf, welche Bilder von Alexei Nawalny und anderen Dissidenten emporhalten, was schnell von Ordnungskräften eingedämmt wird.

Musikalisch soll dieser Akt nun endlich Grga Peroš in der Titelrolle gehören. Der Bariton hat sich inzwischen mit Scarpia und Rigoletto Partien des Heldenfachs erfolgreich erobert und damit das Kavaliersfach hinter sich gelassen. Für einen Onegin, einer typischen Partie für einen Kavalierbariton, klingt er ungewöhnlich dunkel und mächtig. Mitunter hat man den Eindruck, daß er seine Stimmgewalt zähmen muß. Ähnlich wie bei Araújo kann man ihm die tadellose Bewältigung der musikalischen Anforderungen bescheinigen, allerdings auch einen Einsatz im nicht ganz passenden Stimmfach. Araújo ist (noch) kein jugendlich-dramatischer Sopran, Peroš kein Kavalierbariton (mehr). Das sind aber Einwände, die auf verfestigten Hörgewohnheiten und Besetzungstraditionen beruhen und die musikalischen Leistungen nicht schmählern sollen.

Grga Peroš mit Chor und Statisten / © Lena Bils

So erscheint auch die Stimme von Clarke Ruth für den Fürsten Gremin zwar angemessen dunkel, aber ungewohnt schlank. Ganz der Rollenerwartung entspricht dagegen Jana Marković mit ihrem warm timbrierten Mezzosopran als Olga, eigentlich eine Alt-Partie, deren Tiefen die junge Sängerin aber souverän meistert. Judith Christ-Küchenmeister zeigt ihre bereits in Darmstadt erprobte Filipjewna als gar nicht so alte Frau mit klangsattem Mezzo.

Das Orchester unter der Leitung von Vladimir Yaskorski findet schon in der Einleitung zu einem farbigen, blühenden Ton ohne falsche Sentimentalität, der auch den restlichen Abend bestimmt. Auch der sehr präsente Chor trägt dazu bei, daß die Musik einen Eindruck von großer Frische vermittelt. Dieser gute Eindruck wird auch dadurch nicht wesentlich getrübt, daß die Cello-Gruppe sich phasenweise kaum auf eine einheitliche Intonation einigen kann.

Zu erleben ist ein szenisch runder Abend mit starken Darstellern, in dem das Gießener Theater die Leistungsfähigkeit seiner Stammkräfte herausstellt.

Michael Demel, 28. März 2024


Eugen Onegin
Lyrische Szenen in drei Akten
von Peter Tschaikowsky

Stadttheater Gießen

Premiere am 23. März 2024

Inszenierung: Ute M. Engelhardt
Musikalische Leitung: Vladimir Yaskorski
Philharmonisches Orchester Gießen