Hannover: „Dialogues des Carmélites“

Premiere: 02.06.2018

Quartett komplett

Lieber Opernfreund-Freund,

schon dreimal habe ich Ihnen in der laufenden Spielzeit von Neuinszenierungen von Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ berichtet. Seit gestern nun ist das Quartett komplett: Regie-Altmeister Dietrich W. Hilsdorf hat in Hannover seine interessante und durchdachte Lesart des Stückes präsentiert und wird dabei von exzellentem künstlerischem Personal unterstützt. Und doch will der berühmte Schluss nur teilweise überzeugen.

Weniger als zwei Wochen vor der Hinrichtung Robespierres, mit der die schreckliche Terrorherrschaft im postrevolutionären Frankreich ihr Ende fand, wurden 16 Nonnen eines Karmelitinnenklosters in Compiègne geköpft. Sie hatten sich geweigert, ihren Konvent aufzulösen und waren deshalb vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt worden. Sie ruhen in einem Massengrab auf einem Friedhof im Pariser Quartier Picpus, Papst Pius X. hat die Märtyrerinnen 1906 selig gesprochen und rund 25 Jahre später hat Gertrud von Le Fort ihrem Schicksal in ihrer Novelle „Die Letzte am Schafott“ ein Denkmal gesetzt, in der sie um die historisch verbürgten Ereignisse die Geschichte der jungen Adeligen Blanche von La Force ersann, die aus einer unbestimmten Angst vor dem Leben Sicherheit ausgerechnet in einem Kloster sucht, in dem es kurze Zeit später keine Sicherheit mehr geben kann. Blanche verweigert sich dem Märtyrergelübte, das die Karmelitinnen ablegen, geht aber nach deren Hinrichtung freiwillig als letzte zur Guillotine. 1957 kann dann die Opernadaption dieses Stoffes in Mailand auf die Bühne. Poulenc, selbst tief gläubig, hat die Geschichte in mehrere von Zwischenspielen unterbrochene Tableaus unterteilt und erzählt die Geschichte als eine Abfolge einzelner Blitzlichter, die den Fortgang der Ereignisse dokumentieren. Dabei bedient er sich eines tonalen Kompositionsstils, verflicht die Themen in fugenartigen Gebilden und streut immer wieder religiöse Gesänge ein.

Das Ganze Werk atmet also aufgrund der historischen Verflochtenheit und der musikalischen Umsetzung durch Francis Poulenc Katholizismus. Und gerade den versucht Hilsdorf in seiner Interpretation des Stoffes in den Hintergrund zu drängen. Er zeigt Blanche und die übrigen Karmelitinnen nicht als im Ordenshabit zur Einheit verdammten Religionsgemeinschaft, sondern schon rein optisch als Individuen, die allesamt Alltagskleidung aus der Entstehungszeit des Werkes tragen, die Renate Schmitzer entworfen hat. Der sich nach hinten verengende Bühnenraum ist Blanches Zuhause, zuerst bei ihrem Vater, später im Karmel – und doch alles andere als heimelig, ein allzu kitschiger Madonnenparavent schafft Intimität in den Szenen der alten Priorin. Zwischen den Tablaus schließt sich immer wieder eine Häuserzeile, die die Abgeschlossenheit der Welt verdeutlicht, in die sich die Frauen zurückgezogen haben – die imposante Bühne stammt von Dieter Richter – denn sie alle sind in ihren eigenen, ebenfalls individuellen Zwängen gefangen und suchen ihr Heil in der Religiosität. Doch damit ist keineswegs das Seelenheil gemeint, nicht die spirituelle Erlösung ist das Ziel der Konventsmitglieder, sondern das Loswerden des eigenen Zwangs durch Fokussierung auf das Gebet. Mittels ausgeklügelter Personenführung und kleiner und kleinster Gesten zeichnet Hilsdorf präzise Charakterbilder der einzelnen Protagonisten und ihrer vielschichtigen Beziehungen untereinander und schon im Laufe der Aufführung überzeiht den Zuschauer mehrfach ein Schauer.

Deshalb ist es um so bedauerlicher, dass Hilsdorf sich ausgerechnet im einzigartigen Gänsehautfinale über Poulencs Musik erhebt und so der musikalischen Wucht des Werkes die Spitzen nimmt. In der letzten Szene schreiten die 16 Nonnen „Salve regina“ singend zum Schafott, Poulenc hat das Fallen des Fallbeils hörbar in die Partitur eingewebt, unterbricht so schon musikalisch den Gesang, der sich im Anschluss mit einer Stimme weniger erhebt, bis zum Schluss eine einzige Sängerin – nämlich die aus der Menge heraustretende Blanche – übrig bleibt. Die Hinrichtung kann man in vielerlei Art und Weise darstellen: fallende Stoffbahnen, ausgeblasene Kerzen, platzende Blutbeutel oder einfach ein Abgang nach rechts sind veritable Möglichkeiten das Geschehen zu bebildern. In Hannover ist der Moment des Todes eine Art Gang ins Licht – dann also doch die Verheißung des Paradieses? – hinter jeder Protagonistin wird die Tür mit lautem Knall zugeschlagen. Das aber erschreckt die Zuschauer mitunter dermaßen, dass die die Situation in nervösem Gekicher zu lösen versuchen. Am Ende kann sich eine Dame ein lautes „Na wunderbar!“ nicht verkneifen. Hilsdorf sieht das bedauerlicherweise nicht voraus, nimmt darüber hinaus auch noch der Musik die Macht, denn im lauten Türenknall ist natürlich der kompositorische Wille Poulencs übertüncht, ja ausgehebelt. So ist die musikalische Einmaligkeit des Werkes dahin, ein Großteil des Publikums hat nicht verstanden, dass der Komponist das genau so wollte – und das ist sehr schade für das wohl eindrucksvollste Finale der Operngeschichte. In einem Radiointerview hatte sich Hilsdorf nach dem letzten Ton einen Moment des Innehaltens und der Stille gewünscht, ehe man zu applaudieren beginnt. Dem hilft er selbst dadurch nach, dass er Bühne und Zuschauerraum noch lange hellst erleuchtet lässt, das Publikum ist schlicht unsicher, ob noch etwas kommen mag. So kann man sich dann natürlich auch selbst die Wünsche erfüllen…

Dieser Wermutstropfen ist um so bedauerlicher, weil es wirklich ein rundum perfekter Abend hätte werden können, so wunderbar und vollkommen ist die musikalische Umsetzung gelungen. Valtteri Rauhalammis Dirigat zeichnet sich durch eine wunderbare Stringenz und Klarheit aus, mit der er den Sängerinnen einen farbenreichen Teppich für ihre Kunst bereitet. „Allen voran“ gibt es da nicht. Absolut gleichwertig und von höchster Qualität sind Gesang und Spiel der Damen und Dank der präzisen Arbeitsweise des Regisseurs wächst jede einzelne auch darstellerisch über sich hinaus. Die Blanche von Dorothea Maria Marx ist eine Wucht, mit jeder Faser verkörpert das Ensemblemitglied die junge, zutiefst verstörte Frau und angesichts des stimmlichen Volumens, der reichen Farben und der großen Kraft kann man sich kaum vorstellen, dass sie am Haus auch als „Königin der Nacht“ zu erleben ist. Monika Walerowicz glänzt als Mère Marie mit intensiver Darstellung und den mannigfaltigen Nuancen ihres satten Soprans und ist sicher die beste „Version“ dieser Rolle, die ich in dieser Spielzeit an den vier Häusern habe sehen dürfen. In absoluter Bestform zeigt sich auch Kelly God als Madame Lidonie. Sie legt die neue Priorin vergleichsweise energisch und selbstbewusst an, weiß sich aber in der Kerkerszene auch zurück zu nehmen. Renate Behle war schon auf allen großen Bühnen der Welt zu sehen und hat vor beinahe 10 Jahren eigentlich ihren Bühnenabschied genommen. Dass sie nun an ihre alte Wirkungsstätte zurückgekehrt ist, um die alte Priorin zu spielen – ach, was sage ich… zu sein (!), ist ein großes Glück. Ania Vegry ist eine spritzige Constance, deren gute Laune förmlich über den Graben springt. Für Blanches Bruder, den Chevalier de la Force hat sich Poulenc einen Mozart-Tenor gewünscht – und genau das ist Simon Bode. Sein lupenreiner, schlanker Tenor ist mit seiner feinen und so klaren wie unangestrengten Höhe wie gemacht für diese Rolle, auch wenn er sich in den ersten Minuten offensichtlich erst freisingen muss. Aus dem Heer an vergleichsweise kleineren Herrenrollen sticht Yannick Spanier hervor. Der junge Bass ist seit dieser Spielzeit an der Jungen Oper Hannover engagiert und seine enorme stimmliche und körperliche Bühnenpräsenz macht neugierig auf mehr.

„Dialogues des Carmélites“ ist nicht zuletzt auch eine Choroper. Glänzend vorbereitet und von Lorenzo Da Rio bestens aufeinander abgestimmt präsentieren sich die Damen – und in der Schlussszene auch die Herren vom Balkon – und machen so den Abend zu einem musikalischen Gesamterlebnis. Da ist es nur gerecht, dass sie sich zum frenetischen und nicht enden wollenden Schlussapplaus auch einzeln dem Publikum präsentieren dürfen und nicht nur als Künsterlinnenkonvolut – ganz dem Regieansatz Hilsdorfs folgend, der ja jede Einzelne ins Zentrum seiner Betrachtung gestellt hatte.

Ihr Jochen Rüth 03.06.2018

Die Fotos stammen von Thomas M. Jauk.