Hannover: „Eugen Onegin“

(Premiere am 21. Mai 2022)

Turbulent

Bekanntlich beruhen Tschaikowskis „Lyrische Szenen“ auf Alexander Puschkins gleichnamigem Vers-Roman, mit dem es in Hannover gleich beginnt: Auf Russisch rezitiert eine Sprecherin Puschkin, wie die Freundschaft von Lenski und Eugen Onegin entstanden ist, während die beiden auf dem Fußboden des großen Saals in Larinas Landguts rumalbern, offenbar kiffen und sich langsam verziehen, wenn die Akteure der ersten Szene erscheinen – ein überflüssiger Einstieg, denn man weiß, dass die beiden eine enge Freundschaft verbindet. Wie diese entstanden ist und dass sie trotz großer Verschiedenheit Bestand hat, ist für den Ablauf der Handlung letztlich uninteressant. Alles findet in einem Einheitsbühnenbild (Susanne Gschwender) mit einer übergroßen Fensterwand statt, durch die man in eine parkähnliche Landschaft und zuletzt auf Hochhausschluchten von St. Petersburg blickt. Durch die passenden Kostüme von Eva Butzkies wird deutlich, dass die Hausregisseurin Barbora Horáková die Handlung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart geholt hat, ohne dass dies irgendwie plausibel ist. Denn so manche Klimmzüge sind nötig, um die Handlung aus früheren Zeiten dennoch glaubwürdig zu gestalten, wie beispielsweise beim Duell, das zu einer tödlich endenden Rauferei mit versehentlich ausgelösten Schuss wird. Sonst bleibt die detailverliebte Regisseurin erfreulicherweise eng an der Vorlage, wobei es einige Merkwürdigkeiten gibt, die nicht immer verständlich sind: Da lehnt sich Tatjana bei ihrer ersten Begegnung an die Brust Onegins, was sich das schüchterne Mädchen nie trauen würde; dass bei emotionalen Aufwallungen ständig Stühle umgeworfen werden oder dass man sich häufig auf den großen Tisch begeben muss (Olga tanzend, Tatjana den Brief schreibend), sind wohl gern gewählte Regieeinfälle, die allerdings nicht immer überzeugen. Wenn Tatjana sich am Schluss der Briefszene Wasser aus der Blumenvase über den Kopf schüttet und Onegin sich beim Übergang von der Duell-Szene zum Fest bei Gremin während der Polonaise zum Gejohle auf offener Bühne umziehen muss und später nach dem Wiedersehen mit Tatjana in ein auf die Bühne gefahrenes Terrarium klettert, um sich dort mit Erde zu beschmieren – da hört das Verständnis auf. Ansonsten waren besonders die beiden Feste von einer teilweise übertrieben wirbeligen Turbulenz, wie sie selten zu erleben ist.

James Newby/Pavel Valuzhin

Das alles störte doch sehr, aber beeinträchtigte die insgesamt gut gelungene musikalische Verwirklichung nur selten, wie z.B. das Gejohle der festlich gekleideten Choristen bei der Polonaise. Am Pult des an diesem Abend in allen Gruppen und bei den zahlreichen Instrumentalsoli ausgezeichneten Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover stand der 1. Kapellmeister James Hendry, der mit großem Gestus und effektiver Präzision für enormen Schwung sorgte, aber auch in den lyrischen Passagen den Farbenreichtum von Tschaikowskis Musik herausarbeitete. Bei der dramatischen Zuspitzung am Ende der Oper hätte das Dirigat des jungen Briten deutlich sängerfreundlicher sein müssen; da hatten die beiden Protagonisten teilweise keine Chance, über das Orchester hinaus zu kommen.

Monika Walerowicz/Ruzana Grigorian

James Newby in der Titelrolle zeichnete den zunächst gelangweilten Müßiggänger nicht wie sonst oft zu erleben als arroganten, schnöselhaften Dandy, sondern gab ihm sogar sympathische Züge, wenn er z.B. nach seiner Ablehnung Tatjanas deren Tränen abwischt. Sein höhensicherer Bariton gefiel besonders in den lyrischen Teilen; in der Dramatik der Schlussszene forcierte er leider zu stark, was sicher auch an dem Lärm aus dem Orchestergraben lag. Als Tatjana erlebte man die Usbekin Barno Ismatullaeva, die die zurückhaltende, schwärmerische Jugendliche und später die gereifte, treue Ehefrau überzeugend gestaltete. Sie führte ihren fülligen, ausdrucksstarken Sopran sicher von den ruhigen, lyrischen Passagen bis in leidenschaftliches Forte. Nur an wenigen Stellen im Piano gab es kleinere Intonationstrübungen. Mit charaktervollem lyrischem Tenor versah der Belarusse Pavel Valuzhin den unglücklichen Lenski; besonders anrührend gelang ihm dessen berühmte Abschiedsarie. Mit munterem Spiel und einem dunkel timbrierten, flexiblen Mezzo gefiel die Russin Ruzana Grigorian als Olga.

Shavleg Armasi/Barno Ismatullaeva

Einmal mehr begeisterte Shavleg Armasi mit seinem Prachtbass in der berühmten Arie über die Liebe als würdevoller Fürst Gremin. Der in allen Lagen abgerundete, kultivierte Mezzosopran von Monika Walerowicz passte bestens zur besorgten Larina als elegante Gastgeberin. Eine entgegen dem Text nicht alte Filipjewna war mit glaubhaftem Spiel und ausgeglichenem Mezzo die Russin Vera Egorova. Eine eitle Witzfigur war hier Triquet, dessen Geburtstagsständchen Robert Künzli heldentenoral ausfüllte. Als Hauptmann und Saretzki ergänzte Gagik Vardanyan zuverlässig. Die Chöre in der Einstudierung von Lorenzo Da Rio gefielen erneut durch Klangpracht und Ausgewogenheit.

Das Publikum war hellauf begeistert und bedankte sich bei allen Mitwirkenden mit jubelndem, mit Bravos durchsetztem Applaus.

Fotos: © Sandra Then

Gerhard Eckels 27. Mai 2022

Weitere Vorstellungen: 1.,3.,11.19.6.+1.,7.7.2022