Premiere: 31. 10. 2013
Im Räderwerk moderner Zeiten
Also man muss schon sagen: Händels Oper „Rinaldo“ scheint z. Z. eine echte Renaissance zu erleben. Nach Aufführungen in Coburg und Freiburg hat sich nun auch das Staatstheater Mainz in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik Mainz des Werkes angenommen und damit wieder einmal einen Volltreffer gelandet. Das ist in erster Linie Tatjana Gürbaca zu verdanken, die mit ihrer gelungenen Inszenierung ihre letzte Regiearbeit als Operndirektorin des Mainzer Theaters präsentierte. Wie immer, wenn Frau Gürbaca am Regiepult sitzt, wurde man auch dieses Mal mit einer trefflich durchdachten, modernen Konzeption konfrontiert, die in ihrer Gesamtheit durchaus überzeugend war. Auf eindringliche Weise nimmt die junge Regisseurin ***, die von der Zeitschrift Opernwelt vor kurzem zur Regisseurin des Jahres nominiert wurde, sozial- und gesellschaftskritische Aspekte unter die kritische analytische Lupe, wobei der eigentlichen Kreuzfahrer-Geschichte eine nur untergeordnete Bedeutung zukommt. Sie dient letztlich nur als Mittel dafür, allgemeingültige Aspekte des menschlichen Zusammenlebens und universale politische Gegebenheiten aufzuzeigen. Aber dass Tatjana Gürbaca die Geschichte nicht nur auf traditionelle Art und Weise simpel nacherzählen, sondern sie als Vehikel für eine übergeordnete Aussage nutzen würde, war ja von vornherein klar. Sie hat immer etwas von zentraler Relevanz zu sagen. Auch diesmal war das der Fall.
Jina Oh (Rinaldo)
Nicht mit einem konkret zu verortenden Geschehen haben wir es somit zu tun, sondern mit überall und zu jeder Zeit möglichen Handlungsmustern. Demgemäß wird der Hintergrund des von Stefan Heyne geschaffenen Einheitsbühnenbildes von einem überdimensionalen Weltenglobus mit Breiten- und Längengraden eingenommen, den die Regisseurin als Kommentarebene mit Hilfe von eingeblendeten Zwischentexten nutzt. Im weiteren Verlauf des Abends tritt eine riesige Weltenuhr an seine Stelle. Unter ihm sitzt auf einer Empore das Orchester einschließlich eines Donnerblechs als integrierter Bestandteil des gesamten – künstlerischen – Kosmos, während die Sänger auf einer über dem Orchestergraben errichteten Vorderbühne agieren. Dieses Verfahren ist nicht mehr neu. Ganz im Vordergrund befindet sich eine den Kreislauf der Welt versinnbildlichende drehbare Scheibe, auf der ein Sofa den von Silke Willrett zeitlich variabel eingekleideten Handlungsträgern von Zeit zu Zeit Bequemlichkeit bietet.
Jina Oh (Rinaldo) und Ensemble
Im Übrigen lässt das Bühnenbild eklatante Bezüge zu Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ erkennen. Die vielfältigen, teilweise recht gigantischen Räder, die den Hintergrund prägen oder bedrohlich vom Schnürboden herabhängen, nehmen in eindrucksvoller Art und Weise das Interieur des berühmten Stummfilmklassikers auf und weisen gekonnt den Weg zu dem eigentlichen, innovativen Kern des Ganzen. Nicht auf die Zeit der Kreuzzüge, von der ein Geschichtsbuch den Handlungsträgern Aufschluss gibt, nimmt Frau Gürbaca hier Bezug, sondern auf die als Folge der Industrialisierung entstandenen Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts, wobei sie keinen Zweifel daran lässt, dass sie die Grundaussage von Chaplins Film auch heute noch für gültig und letztlich für zeitlos erachtet. Dessen radikale kapitalismus- und sozialkritische Ausrichtung nimmt die Regisseurin geschickt auf und führt dem Zuschauer eindringlich eine Gesellschaft vor Augen, die gnadenlos dem Räderwerk von Industrie und Technik unterworfen ist, wobei sie gleichzeitig dem Publikum den Spiegel vorhält. Damit begibt sie sich ganz in das Fahrwasser Chaplins, der schon damals die Gefahren einer Überbetonung des industriellen Faktors erkannt und nachhaltig dagegen opponiert hat.
Die Botschaft ist klar: Was zuerst als Fortschritt erscheint, kann sich irgendwann einmal als Gefahr erweisen. Dafür ist Chaplins in „Moderne Zeiten“ vorgeführte „Fütterungsmaschine“, die zuerst harmlos erscheint, schließlich aber gefährlich wird, ein treffliches Beispiel. Sie symbolisiert die Auswüchse des Industriezeitalters, das außer Kontrolle gerät und seine eigenen Schöpfer zu verschlingen droht. Darum geht es auch hier. Allzu leicht kann die Menschheit Opfer des von ihr im Zuge eines fragwürdigen Fortschritts selbst geschaffenen monströsen Räderwerks werden und letztlich selber zur Maschine mutieren. Die menschliche Seele darf aber nicht zu „einer Art geistiger Automat“ werden, um es mal mit Leibniz zu formulieren, nicht an ihrer eigenen Hybris zugrunde gehen. Gegen diesen drohenden Verlust des menschlichen Faktors, der in Anlehnung an eine Formulierung von Edmond Halley nur einer „Himmelsmechanik“ unterworfen sein soll, geht Tatjana Gürbaca mit den Mitteln der Opernbühne auf die Barrikaden und richtet an das Auditorium ihr flammendes Plädoyer, seine Identität, sein Menschsein zu bewahren.
Jina Oh (Rinaldo), Radoslava Vorgic (Armida)
Zu diesem Zweck bringt sie auf symbolischer Ebene erst einmal zwei weibliche Engel, ursprünglich die Sirenen, ins Spiel, die gleich Amor ihre sprichwörtlichen Liebespfeile abschießen und die Liebe damit als edelstes Gefühl der Menschheit preisen. Und wie könnte man dieses hehrste Gut den Erdenbürgern besser vermitteln als durch die Musik, meint die Regisseurin und lässt demgemäß den Pfeil auch mal zum Violinbogen mutieren, der im Folgenden die Runde durch die Hände mehrerer Beteiligter macht. Sein Ansatzobjekt ist aber keine Violine, sondern eine gewöhnliche Pop-Gitarre, mit deren Hilfe Almirena im ersten Akt ihre Arie „Augelletti che cantate“ in einer schönen Naturstimmung komponiert, aber erhebliche Schwierigkeiten hat, den Notenständer aufzustellen. Nicht nur hier wird eine heiter-komische Komponente ins Spiel gebracht, die fernab von allem Ernst das Lachen als einzige Gesundungsmöglichkeit der tiefernsten Verstrickungen unterworfenen Gesellschaft propagiert. Nur so kann das spezifisch Humane erhalten werden.
Einfach köstlich ist schon Gürbacas Zeichnung des Titelhelden, den sie als „Held in Arbeit“, als noch nicht gänzlich ausgereiften, manchmal etwas unbeholfen wirkenden Krieger auf seinem Weg zur Mündigkeit auffasst. An Rinaldo hat die Erziehung noch eines zu wirken. Der Vorteil seiner Unfertigkeit ist indes, dass er von den Schwankungen seiner Unwelt als Einziger nicht berührt wird. Letztere sind insbesondere in dem von bewussten Überzeichnungen und Slapstick dominierten Verhältnis von Goffredo und seinem nur „dreißig Sekunden zu spät geborenen“ – so eine der auf den Globus projizierten augenzwinkernden Anmerkungen der Inszenatorin – Bruder Eustazio zu merken. Ersterem behagt es nicht, dass ihm nicht allein die Staatsführung obliegt, letzterer lässt sich von der Spitze aber nicht so leicht verdrängen. Logisch, dass es unter diesen Umständen zwischen ihnen zum Streit kommt.
Aber nicht Waffen sind es, die den doch sehr selbstherrlichen Brüdern zur Austragung ihres Konfliktes dienen, sondern Federbälle. Das Federballspiel beherrschen beide ausgezeichnet. Auch Rinaldo und die beiden Engel finden daran Gefallen, während sich die sprunghafte, zeitweilig recht aggressive und insgesamt sehr erotisch gezeichnete Raucherin Armida lieber mit Kosmetikartikeln aus London, New-York, Tokio und Paris abgibt, die sie in einer Handtasche mit sich führt. Darüber hinaus stellt die Regisseurin gleichsam mit erhobenem Zeigefinger in Form einer eifrig ihrer Kriegsberichtserstattungsarbeit nachgehenden Kamerafrau den oft fragwürdigen modernen Presse- und Medienrummel an den Pranger. Es geht auf der Bühne schon ausgesprochen kurzweilig und rasant zu, wozu nicht zuletzt die wieder einmal hervorragende, lebendige und abwechslungsreiche Personenregie Tatjana Gürbacas, die die da-capo-Arien szenisch ausgezeichnet zu füllen weiß, einen immensen Teil beiträgt.
Diese Geschichte mündet in ein äußerst vergnügliches Ende, an dem die Regisseurin den von ihr verurteilten Krieg in reichlich parodistischer Manier herrlich karikiert. Ein durch den „Zauber“ der Regie bei allen Beteiligten hervorgerufenes, augenscheinlich ganz dringendes menschliches Bedürfnis zwingt sie, zuerst einmal nicht das Schlachtfeld, sondern ein gewisses Örtchen aufzusuchen, das sie wohl nicht so schnell wieder verlassen werden. Humor, Selbstironie, Karikatives und Parodie als amüsante Mittel gegen den Krieg prägen das ungewöhnliche, aber recht lustige Ende. Hier ist Tatjana Gürbaca erneut ein großer und kluger Wurf gelungen, der ihr alle Ehre macht und ihren Abschied von Mainz schmerzlich erscheinen lässt.
Radoslava Vorgic (Armida)
Eine gute Hand für Händels Partitur bewies GMD Hermann Bäumer am Pult. In einer Zeit, in der die Werke des Haller Komponisten vorwiegend auf historischen Instrumenten gespielt werden, musste die von ihm und dem Philharmonischem Staatsorchester Mainz zu Gehör gebrachte Interpretation reichlich romantisch anmuten, was aber kein Fehler ist. Insbesondere bei den langsamen, gefühlvollen Arien machte sich diese Herangehensweise von Dirigent und Musikern bezahlt, zumal Bäumers Deutung der Partitur das barocke Flair mit zahlreichen spezifischen Coleurs, guter Transparenz und enormer Ausdrucksintensität nicht vernachlässigte, was sein Dirigat sehr vielschichtig und abwechslungsreich erscheinen ließ.
Saem You (Almirena)
Gespielt wurde die am 24. 2. 1711 am Queen’s Theatre, Haymarket, London uraufgeführte erste Fassung der Oper. Die Sänger, die trotz ihres jugendlichen Alters zum großen Teil bereits beachtliche Leistungen erbrachten, rekrutierten sich aus dem Jungen Ensemble des Staatstheaters Mainz. Jina Oh gab einen schauspielerisch wendigen, aufgedrehten Rinaldo, dem sie mit ihrem gut focussierten Mezzosopran auch stimmlich gut gerecht wurde. Über beachtliches dramatisches Sopran-Potential und prägnante Koloraturen verfügte Radoslava Vorgic, die der Armida auch darstellerisch ein überzeugendes Profil zu geben wusste. Ebenfalls vokal flexibel und mit schönem lyrischem Ausdruck präsentierte sich der vorbildlich gestützte Sopran von Saem Yous Almirena. Dem Argante von Dmitriy Ryabchikov fehlte es noch etwas an vollem, rundem Klang seines an sich nicht unangenehmen, im Augenblick aber noch etwas zu „deutsch“ geführten Baritons. Etwas italienischerer Natur hätten auch die Stimmen von Su-Jin Yang (Donna, Sirene) und Uiji Kim sein können. Solide Florian Küppers’ Mago. . Gastsänger Michael Taylor und Alin Deleanu waren als Brüderpaar Goffredo und Eustazio rein von der darstellerischen Seite her aber durchaus gefällig, genau wie der manchmal gesprochene deutschsprachige Extemporés von sich gebende Frederik Bak in der Rolle des Araldo. Beim herzlichen Schlussapplaus versammelten sich alle Solisten auf einer viel zu kleinen Couch um ihre aufgrund des großen Erfolges sichtbar glückliche Regisseurin Tatjana Gürbaca und zeigten das anrührende Bild einer kleinen, eng aneinander geschmiegten, aber glücklichen Künstlerfamilie.
Fazit: Eine klug durchdachte, kurzweilige und amüsante Produktion, zu der man Tatjana Gürbaca nur gratulieren kann und deren Besuch durchaus empfehlenswert ist.
Ludwig Steinbach, 5. 11. 2013
Die Bilder stammen von Martina Pipprich und Paul Leclaire.