Wer nicht gerade Wagnerianer ist, dem wird die Aussicht auf eine fast vierstündige Oper leichtes Unbehagen einflößen. Ermüden Längen, ein unspektakuläres Bühnenbild oder strapaziöse Darsteller in faden Kostümen? Mitnichten!
Universalkünstler Achim Freyer, GMD Killian Farrell und sämtliche Sängerinnen und Sänger schufen ein monumentales Gesamtkunstwerk, das bis zum letzten Augenblick anfasst, weil es die Grundfesten und Abgründe menschlichen Daseins zeigt.
„Jedes Schnipselchen erzählt eine Geschichte, Kostüme sind Schöpfung und der Bühnenraum eine Welt parallel zu unserem Alltag“. Die Musik zelebriert teils zart und schlicht, teils gewaltig durch einfühlsame Orchestrierung Charaktere und Situationen: „Musik ist eine Sprache, in der wir uns bewegen, in der wir Theater machen.“
Die fünfaktige Version von 1867 in französischer Sprache beginnt im Wald von Fontainebleau. Elisabeth, Tochter des französischen Königs, soll um des Friedens willen mit Carlos, Sohn des spanischen Königs, verheiratet werden. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Aber als plötzlich bestimmt wird, dass sie den Vater, König Philippe, ehelichen soll, bricht für die beiden eine Welt zusammen. Um den Qualen des Volkes ein Ende zu bereiten, fügt sie sich.
Im zweiten Akt findet man Carlos im Kloster, am Boden zerstört. Plötzlich erscheint sein Freund Rodrigue, Marquis von Posa, berichtet von den unsäglichen Zuständen in Flandern und beschwört ihn, dort für Frieden zu kämpfen.
Im Garten der Königin, ein „heiterer Ort“, vergnügt sich Prinzessin Eboli, die Carlos heimlich liebt, mit den Hofdamen. Rodrigue arrangiert ein heimliches Treffen mit Elisabeth, denn sie soll ihren Mann überreden, den Flanderneinsatz zu genehmigen. Als er ihr erneut seine Liebe gesteht, fürchtet sie um sein Leben: „Erschlagt euren Vater, schleppt mich mit blutigen Händen zum Altar!“ Als der König sie alleine im Garten antrifft, wittert er Verdacht und entlässt wütend die Hofdame. Als Posa ihm furcht- und schonungslos die entsetzlichen Zustände und Massaker in Flandern schildert und Freiheit fordert, beeindruckt ihn das Leid wenig, wohl aber der Mut des Mannes, den er sich zum Vertrauten wünscht.
Im dritten Akt treffen sich Carlos und Eboli, die er für Elisabeth hält, nachts im Garten und er gesteht ihr seine Liebe. Ein fataler Irrtum. Bei einem großen Fest zu den Krönungsfeierlichkeiten sollen Verräter hingerichtet werden. Gesandte flehen vergeblich um Gnade. In einer Monumentalszene, gewaltig orchestriert, versammeln sich alle auf der Bühne. Carlos fordert erneut, aber vergeblich, Flandern und Brabant. Rodrigue verhindert den Vatermord und Carlos wird verhaftet.
Im vierten Akt beklagt der König seine Einsamkeit und das Verhältnis zu seiner Frau. Der Großinquisitor, eine gebrechliche und dennoch durch und durch böse Gestalt, rät ihm den Tod des Freiheitskämpfers Posa. Eboli verführt Philippe und gibt ihm Beweise seiner angeblich untreuen Gattin. Rodrigue erklärt Carlos, alle Schuld auf sich zu nehmen und stirbt für den Freund. Ein Miniaufstand des Volkes für Freiheit und Frieden wird niedergeschlagen und alles bleibt beim Alten. Nur Eboli bereut und will Carlos retten.
Im fünften Akt treffen sich Elisabeth und Carlos, um sich für immer zu verabschieden. Er kennt nun seine Bestimmung, Flandern zu retten. Sie hofft auf ein Wiedersehen in einer anderen Welt. Weder der König, noch der Großinquisitor können ihnen etwas anhaben. Eine Mönchsgestalt erscheint mit der Stimme des toten Karl V.
Die Bühne bleibt in ihren Grundelementen bestehen: Drei nach hinten flach ansteigende Stufen, deren Kanten je nach Situation leuchten. Eine die ganze Bühnenbreite einnehmende Rückwand bleibt Projektionsfläche, die, fortlaufend in Bewegung, abstrakte Bilder Achim Freyers passieren lässt: Grobe Striche, vertikal und horizontal, eine Abstraktion des Waldes, Mauern und kosmische Elemente, aber auch schemenhaft menschliche Gestalten. An den Seiten doppeln Spiegel die Figuren, Nischen bieten Platz für Lauscher und Spitzel, die immer alles und jeden beobachten. Schleierwände bewegen sich hin und her und verbergen oder enthüllen. Und dann das Licht… Schlagartig taucht es jede Szene in eine Bedeutungs- und Gefühlswelt, flutet oder schimmert je nach Ereignis. Rot als Zeichen der Liebe ist die Farbe für Elisabeth und Carlos, was sich auch kaum sichtbar in deren Kostümen verbirgt. Gelb symbolisiert das Königliche und Blau die Treue, die Rodrigue auszeichnet, Rosa für Eboli. Aber auch Grau und Schwärze vermitteln Grauen und Trostlosigkeit. Nicht alles lässt sich in Schablonen pressen und so hat der Zuschauer viel Raum für Phantasie und wird gespannt dieses Spiel im Spiel verfolgen.
Eine weitere Besonderheit dieser Inszenierung ist die Starre der Hauptfiguren. Sie bewegen sich kaum, sehen sich nicht in die Augen und berühren sich nicht. Jeder spielt für sich allein, steht auf seiner Stufe und singt frontal in den Raum. Jeder hat eine eigene Choreographie an immer wiederkehrenden, fast mechanischen Gesten, die seinem Charakter oder seinem Ansinnen entsprechen. Ihre Kostüme sind Skulpturen aus weißem Schaumstoff, asymmetrisch mit schwarzen und farbigen Elementen. Sie wirken fast wie Panzer, die die Menschen umschließen und ihnen kaum Bewegungsspielraum geben, so bei Carlos, der fast ganz in Weiß eine schwere Last zu tragen hat. Das Rot, als Zeichen für Liebe und Verletzlichkeit, soll keiner sehen. Rodrigue, leuchtend blau in der Farbe der Treue, mutet dagegen, locker behost, fast sportlich an. Beide tragen Schildkappen. Philippe im weißgelben Königsoutfit trägt eine riesige schräge Krone. Auch Elisabeth, weiß und bodenlang verpackt, verbirgt die roten Stellen und kann sich dem königlichen Gelb nicht verweigern. Raffinierter, fast mondän verspielt mit schrägem Kopfputz sieht man Prinzessin Eboli in Weiß, Schwarz und Rosa. Als Ungetüm im schwarzen Ornat taucht der Großinquisitor mit wackeligen Gehhilfen auf. Die Augen hinter einer gruseligen Brille verdeckt, bleibt er zwar im Hintergrund, strahlt aber dennoch Bedrohlichkeit aus und weckt unweigerlich die Assoziation zu den Gräueltaten des katholischen Machtapparats Ganz anders, verspielter, quirliger darf Thibault, der Page Elisabeths, sich geben und erinnert an eine Zirkusfigur, und Graf Lerme, ein Herold in grün-weißer Uniform, ergänzt den Farbenreichtum. Irre ausgefallen und sehr eindrucksvoll kleidet sich der Chor. Alle tragen Schwarz mit weißen Elementen, die Augen verdeckt, aber niemand gleicht dem anderen.
Verdi hat in dieser Grand Opéra jedem Charakter mit sehr wenig Mitteln, mit sehr wenig Tönen eine eigene Klangwelt geschaffen, die sich sofort einprägt und jeder weiß, um wen es sich nun dreht. Killian Farrell geht da mit seiner großartigen Meininger Hofkapelle so sensibel und gefühlvoll vor, dass man sich dem Zauber dieser Musik nicht entziehen kann. In den großen Ensembleszenen lässt er nur so viel Opulenz zu, dass der phantastische Chor und Extrachor des Theaters unter der Leitung von David Roman Rothenaicher nicht überspült wird. Alle Stimmen sind klar zu hören. Es ist einfach phänomenal, wie hier die Musik mit der Choreographie des Lichts und den Figuren in völliger Harmonie überzeugt.
Gastsopranistin Dara Hobbs als Elisabeth brilliert in dieser Mammutrolle. Sie steigert die Dramatik der unerfüllten Liebe bis zum Ende in hochspannenden Arien, vermittelt Schmerz und Schärfe klar und sicher und wirkt am Ende fast verklärt. Gasttenor Matthew Vickers verkörpert die Entwicklung des Königssohns in all seinen Phasen betörend und eindringlich. Sicher, scheinbar mühelos, meistert er diese anspruchsvolle Partie. Nicht weniger Applaus verdient Shin Taniguchi. Weichheit wie Härte, Romantik und Biss vereint er in seiner unvergleichlich schönen Stimme und gibt einen überzeugenden Rodrigue. Selçuk Hakan Tıraşoğlu mimt den etwas schwerfälligen König von Spanien mit grobem Bass. Er entspricht dem Mann, der in seiner Rolle festgefahren und unfähig ist, sich dem Guten zu öffnen. Marianne Schechtel ist die Idealbesetzung für die intrigante sowie geläuterte Eboli. Glasklare Koloraturen, bestens artikuliert, gibt sie mit ihrem betörenden Mezzosopran dieser Rolle Kontur und Glanz. Neu im Ensemble: Mark Hightower als übler Großinquisitor fast ätzend, schneidend und sehr eindrucksvoll. Als Ausbund an Quirligkeit und Witz, bringt Sara-Maria Saalmann Leben und Fröhlichkeit in dieses Drama und singen kann diese Frau… keine Frage. Tomasz Wija, der Mönch im Hintergrund, fällt auf. Er hat zwar nur kleine Passagen, gestaltet die jedoch eindrucksvoll. Die Chorsolisten Dana Hinz als Gräfin von Aremberg und Hans Gebhardt als Graf Lerme haben nur kurze Auftritte, aber die auf hohem Niveau.
Dass Achim Freyer gerade diese Oper inszenierte, hat mit der traurigen Gegenwart zu tun: „Verdi beschreibt so aktuell Krieg und Elend. Es ist so erschreckend, dass wir nichts gelernt haben. Macht, Geldgelüste und Überindustrialisierung beherrschen die Welt – Opfer sind die, die leer ausgehen …“ – „Das Theater betrügt uns oft, weil es am Ende eine Zukunft verspricht, die wir im Leben noch nicht erreicht haben“. Er klammert sich an die Kunst, weil er glaubt, dass sie das Verbrechen und den Krieg besiegen kann: „Ohne sie wären wir alle Barbaren, Kunst macht die Welt besser“. So möchte er mit Ideen für den Frieden ins Herz hineindichten, mit Freude, Jubel und Himmlischem.
Und der Zuschauer? „Jeder erfährt die Geschehnisse, die Gefühlslage und Persönlichkeit der Einzelnen für sich“. Er will keinen Determinismus, keine Schwarz-Weiß-Malerei, keine der üblichen Schemata von Gut und Böse, sondern ein Gemenge, das sich durch die Ereignisse und Erfahrungen immer wieder neu sortiert. Das müsste am Premierenabend funktioniert haben.
Ein von diesem grandiosen „Don Carlos“ überwältigtes Publikum verneigte sich mit tosendem Applaus vor diesem großen Künstler, seinem Team und allen, die an dieser Grand Opéra mitgewirkt haben.
Inge Kutsche, 8. September 2024
Don Carlos
Oper in fünf Akten von Giuseppe Verdi
Staatstheater Meiningen
Besuchte Premiere am 6. September 2024
Regie: Achim Freyer
Musikalische Leitung: Killian Farrell
Meininger Hofkapelle
Weitere Vorstellungen: 13.09. | 15.09. | 05.10. | 27.10. | 16.11. | 30.11. | 12.12. | 21.12.2024 | 31.01.2025