Meiningen: „Gespenster“, Torstein Aagaard-Nilsen

© Christina Iberl

Halloween ist längst vorbei und wer erwartet, dass in „Gespenster“ sich Lebendige und Geister quirlig amüsant auf der Bühne tummeln, wird eines Besseren belehrt. Der frühere Intendant Ansgar Haag und der norwegische Komponist Torstein Aagaard-Nilsen fanden im gleichnamigen Schauspiel Henrik Ibsens eine interessante Vorlage, ein überholtes Skandalstück faszinierend modern und gegenwartstauglich als Oper zu gestalten. Sehr frei nach Ibsen setzt die Librettistin Malin Kjelsrud in ihrer Dekonstruktionstechnik Worte und Aussagen neu zusammen, ergänzt und streicht, was zu einer neuen Sichtweise auf die Charaktere verhilft. Anders als im Schauspiel braucht es in der Oper weit weniger Text, aber den weit wirkungsvoller. Während in den Libretti der traditionellen Musikwerke dieser bisweilen banal und nicht immer handlungskonform in Endlosschleifen anödet, erschüttert und trifft hier jedes Wort. Was hier erlebt werden darf, ist kein Fast Food, sondern die verstörende und zerstörende Geschichte einer Frau, die in ihrem engstirnigen Denken und Fühlen gefangen ist. Während sie in Ibsens Vorlage eher Opfer in einer lieblosen Ehe ist, wird sie hier zum Unmenschen und der Zuschauer kann gebannt verfolgen, in welche Abgründe sich die Spirale der Ereignisse bewegt. Die volle Aufmerksamkeit hat ohne Frage die Musik. So viel Spannung, so viele Klangbilder, so viele instrumentale und vokale Überraschungen bewirken einen ungeheuren Drive und schaffen neue Klanglandschaften. Ex-GMD Philippe Bach kam extra nach Meiningen, um die coronabedingt verspätete Uraufführung zu dirigieren. Welch ein Glück, dass in diesem Theater die Kunst und das Werk oberste Priorität haben und nicht wie andernorts Egomanie oder Rivalität.

© Christina Iberl

In sieben dichten Szenen wird das Leben und Leiden im Hause Alving episodenhaft dargestellt, nachdem der Hausherr Erik gestorben ist. Hauptfigur ist Helene Alving, die immer wieder Vergangenes in ihrer Erinnerung wachruft. So ist es geschickt, diese Figur von zwei Frauen spielen zu lassen: eine Junge und eine Alte, die aus einer gewissen Distanz, aber nicht distanziert kommentiert und agiert. Während im Film mit Rückblende gearbeitet werden kann, sind hier die Personen in unterschiedlichen Lebensphasen gleichzeitig zu sehen. Eingeblendete Jahreszahlen und Orte zeigen die Zeit und führen den Zuschauer. Nichts lenkt hier ab, wenn Dieter Richter die Bühne mit einer großzügigen, aber schlichten Sitzlandschaft vor einer unspektakulären Tapete der 60er Jahre ausgestattet hat. Darüber erstreckt sich ein großformatiges Küstenszenario im Stil Caspar David Friedrichs: Metaphern für ein tristes, farbloses Leben der Eheleute und brodelnde Gefühle.

Wenn sich die große dunkle Holzwand zur ersten Szene öffnet, beginnt Helenes Seelenstriptease. Ein Bett erscheint, in dem sie eine Nacht mit Pastor Gabriel Manders verbringt und ihr Sohn Osvald gezeugt wird. Nach dem Akt ist er außer sich, bereut und jagt sie fort. Nüchtern und verbittert kommentiert sie das Verhalten des Mannes, der sie zu Erik zurückgeschickt hat. So wird sie bis zu dessen Tod mit Geheimnissen, mit Lügen und Verbitterung leben. In der zweiten Szene spielt sie mit ihrem kleinen Sohn Osvald, während Erik zu schrägen Walzerklängen mit Dienstmädchen Johanne tanzt, weil seine Frau sich eiskalt verweigert. Nun gibt sie zu, dem Mann nie eine Chance oder ein Zuhause gegeben zu haben. Sie hat dessen Liebe nie erwidert, alles erstickt, weshalb er auch ein Verhältnis mit Johanne pflegte. Streit und Vorwürfe von beiden Seiten belasten das Kind, das sie mit einer Affenliebe umklammert.

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Jazzige Musik leitet in die Gegenwart über. 30 Jahre später ist Regine, Johannes Tochter, Dienstmädchen im Haus und verliebt sich in Osvald, der aus Paris zur Beerdigung seines Vaters zurückgekehrt ist. Die Musik perlt, swingt, und lässt etwas Hoffnung auf Glück keimen. Sie sitzt ihm Modell und klärt ihn über das abartige Verhalten seiner Klammermutter auf. So spielt folgerichtig die nächste Szene in der Villa am Fjord, in der Helene ihr Baby schier erdrückt und vergöttert: „Du und ich allein gegen die Welt“. Nun ahnt die alte Helene, was sie getan hat: abgründig, verzweifelt und schrill ihr Gesang. Düstere Stimmung in der nächsten Szene, mysteriöse Klänge, elektronische Musik erinnern an Hitchcock: Jacob Engstrand ersticht seine Frau Johanne, vermutlich bekam er von Helene Geld dafür, das im Hause durch Geldwäschegeschäfte Eriks reichlich vorhanden zu sein scheint.

Auf der Trauerfeier für Erik kommt der Chor zum Einsatz: Die Gäste kondolieren mit Helenes Schuldgedanken. Brachiale Klänge haben nichts Tröstliches. Jacob Engstrand will seine Tochter Regine überreden, zu ihm zurückzukommen, aber sie verabscheut ihn und hat andere Pläne. Wenn in der nächsten Szene die alte und junge Helene Pastor Manders Feigheit und Verlogenheit entlarven, eskaliert das Geschehen, denn er liebte Erik und verdrängt, dass er Osvalds Vater ist.

Im zweiten Teil schraubt sich die Spirale der Erinnerungen und des Gegenwärtigen unaufhaltsam nach unten. Die tote Johanne erscheint ihrem Mann, der keine Skrupel hegt und dem Pastor ohne Reue gesteht, dass er auch ohne Unschuld leben kann: „Dem Stärksten gehört die Welt. Gerechtigkeit wird es nie geben!“. Und wieder erscheint die Trauergesellschaft, amüsiert in Sektlaune: „Er ist tot, die Besten sterben zuerst!“. Scheinbar unbeteiligt geben sie Helenes Gedanken wieder. Da taucht der verstorbene Erik auf und Helene gesteht sich ein, dass allein sie versagt hat, nicht er. Er hat ihr alles geschenkt und dafür nur Leere erfahren. Nichts kann sie mehr gutmachen.

Die Musik gibt schon eine düstere Vorahnung, wenn Regine in der nächsten Szene Osvald eindringlich instruiert. Er beichtet seiner Mutter nun, unheilbar krank zu sein. Helene gibt vor, dem Glück der beiden nicht im Wege zu stehen, auch wenn Regine Eriks Tochter sei. Die Ungeheuerlichkeit dieser Lüge treibt diese aus dem Haus. Osvald und Helene beschließen nun, gemeinsam zu sterben, aber die Pillen bekommt nur sie. Das Hintergrundbild gewinnt zart an Farbe, Osvald setzt seinen Hut auf, schlüpft in sein grünes Sakko und Regine steht im bunten Rock reisefertig mit gepackten Koffern in der Tür.

Es ist kaum zu glauben, dass dies Torstein Aaagaard-Nilsens erste Oper ist. Mit sehr viel Einfühlungsvermögen wählt er für das Geschehen der einzelnen Episoden ein eigenes Genre und charakteristische Motive, bzw. instrumentale Besonderheiten für jede Person. Elektronische Glasharfenklänge, Akkordeon, schräge Walzer, Jazz und Liedhaftes setzen bewusst Akzente und regen die Phantasie an. Die Chaconne zu Eriks Beerdigung, ein ungewöhnlicher Kanon und die Tarantella am Ende sind nur Beispiele. Was den Figuren an Dynamik versagt bleibt, übernimmt die Musik, aber stets so, dass die Sängerinnen und Sänger nicht überspült werden und wenn man Phantasie hat, offenbart sich die Weite Norwegens, die dunkle Seite, aber auch das Licht. Das kongeniale Dirigat Philippe Bachs zelebriert mit der großartigen Meininger Hofkapelle diese virtuose Oper, die Regisseur Ansgar Haag aus der Taufe gehoben hat. Das Vorhaben, ein norwegisches Werk nach Meiningen zu bringen, mit einem Stoff, der noch nicht ausgelutscht ist und den entsprechenden Komponisten zu finden, war bestimmt nicht leicht. Weil die Librettistin Malin Kjelsrud Helene als Wurzel allen Übels, die Verlogenheit und das Leben hinter Fassaden zeitgemäß auf den Punkt brachte, traf sie ins Schwarze. Denn die zeitlose Suche nach Glück und dem Sinn des Lebens fasziniert Ansgar Haag seit eh und je – die, wie so häufig, am Einzelnen scheitert.

© Christina Iberl

Marianne Schechtel in gewohnt exzellenter Formsteigert die Rolle der älteren Helene kontinuierlich vom Marionettenhaften zum Expressiven meisterhaft und stimmig. Mit starrer Mimik, teuflischem Blick und verkniffenem Mund gibt sie sich als perfektes Gruselmonster. Sara-Maria Saalmann hat es als junge Helene schon leichter und muss sich nicht ganz so zurücknehmen und ihre wunderschöne Stimme verstecken. Auch sie unterwirft sich der Tragik der Ereignisse, mit Enttäuschung, Schwermut und Flucht in ihr Muttersein.

Alex Kim wirkt als Erik recht abgeklärt und rührt trotzdem mit seiner innig vorgetragenen Enttäuschung. Er wie alle anderen Sänger sind stimmlich hervorragend und in Mimik und Gestik rollenkonform. Shin Taniguchi ist die perfekte Besetzung für diesen selbstgerechten und feigen Pastor Manders und glänzt in dieser recht anspruchsvollen Rolle. Monika Reinhard als Regine, Dienstmädchen und Freundin Osvalds, verkörpert wunderbar diese temperamentvollere Figur. Glockenhell, rein und selbstbewusst gibt sie den Takt vor. Der ukrainische lyrische Tenor Mykhailo Kushlyk entwickelt sich unter den Fittichen Regines vom weichen Muttersöhnchen zum Mann. Auch er ist ein Gewinn für das Ensemble. Emma McNairy tritt erst nach ihrem Tod als Johanne stimmlich eindrucksvoll in Erscheinung, als sie ihrem Mann und Mörder Jacob gegenübertritt. Dieser Halbweltbruder, dargestellt von Mikko Järviluoto, hat viel Potential. Unter der Leitung von David Rothenaicher ist der Chor, gesanglich und darstellerisch auf hohem Niveau, eine tragende Größe des Theaters.

Last but not least gilt ein großes Kompliment der Kostümbildnerin Kerstin Jacobssen. Sie ist berühmt für ihre detailreichen Entwürfe voller origineller Zeitbezüge. Beide Helenen tragen eine pagenartige Perücke, die das Gesicht wie ein Helm schützt und halb verdeckt. Perfekt sitzende Ensembles lassen ihnen wenig Bewegungsspielrau. Johanne und Regine, zunächst im konventionellen Dienstbotendress, schlüpfen erst später in attraktive Outfits und Osvald bekommt als Künstler ein grünes weites Sakko und einen Hut wie der von J. Beuys. Pastor Manders trägt gut sichtbar sein Beffchen, Erik erscheint im tadellosen Anzug. Auch lohnt es sich, die Figuren des Chors näher anzusehen.

Die Uraufführung einer Oper, noch dazu die eines lebenden modernen Komponisten, ist immer ein Wagnis. Das Premierenpublikum in Meiningen hat sich darauf eingelassen und feierte diese gelungene Produktion mit Jubel und langanhaltendem Beifall.

Inge Kutsche, 26. Februar 2024


Gespenster
Oper in einem Akt frei nach Henrik Ibsen
von Torstein Aagaard-Nilsen

Staatstheater Meiningen

Besuchte Premiere der Uraufführung am 23. Februar 2024

Inszenierung: Ansgar Haag
Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach
Meininger Hofkapelle

Weitere Vorstellungen: 01.03. | 23.03. | 07.04. | 27.04. | 15.05. | 13.06.2024