Meiningen: „Madama Butterfly“, Giacomo Puccini

© Christina Iberl

Bei jeder Neuinszenierung der „Butterfly“ ist weniger das Was der Geschichte spannend, sondern das Wie. Es gibt keinen historischen Realismus, der Puccinis Nachfolger in ein Korsett zwingt, denn so fände man diese Oper in einer Leichenstarre, was Handlung und Figuren betrifft. Fraglos ist Cio-Cio-San die Hauptperson, doch muss sie nicht stets als bedauernswertes Opfer anderer gesehen werden. Genau hier setzt Regisseur Hendrik Müllers Idee von seiner Butterfly an. Die Fantasie und Träume dieser jungen Frau beherrschen vom ersten Moment an alles. Mit einer riesigen Videoprojektion ihres Gesichts in Schwarzweiß, in dem die Augen bereits eine Geschichte erzählen, wird man in ihre Psyche gezogen und kann sich fortan dieser ungeheuren Faszination und Obsession nicht mehr entziehen. Hier ist nichts dem Zufall überlassen und so entsteht eine märchenhafte Symbiose zwischen dramatischem Schauspiel und hochemotionaler Musik, einem sehr ansprechenden surrealistischen Bühnenbild und den wechselnden Farben des Himmels im Hintergrund. Amerikanische und japanische Klischees werden augenzwinkernd bedient, ohne lächerlich oder gar albern zu wirken. Mit Kostümbildnerin Katharina Heistinger und Bühnenbildner Marc Weeger hat sich wieder ein Team ans Werk gemacht, große Oper in großes Kino zu verwandeln, ohne sie zu verkitschen.

Staunend verfolgt man – wenn der Vorhang sich hebt – die sachte Landung eines Raumfahrers vom Sternenhimmel wie einst 1969 auf dem Mond. Die amerikanische Flagge auf fremdem Terrain wird zum Symbol für Hoffnung.

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Der amerikanische Marineleutnant Benjamin Franklin Pinkerton, in Nagasaki stationiert, lässt sich von Heiratsvermittler Goro ein Haus zeigen, dass er für 999 Jahre erwirbt und bestellt sich gleich noch eine Frau auf Zeit dazu. Cio-Cio-San, genannt Butterfly, die bislang wegen ihrer verarmten Familie als Geisha arbeiten musste, ist von diesem Arrangement begeistert und sieht endlich ihre Chance auf ein Lebensglück. Pinkerton wartet nun in seinem Haus, übrigens ein interessantes schräges Tableau in rosaroten Schattierungen mit diversen Ebenen, Stufen und Blick über ein Geländer in den Horizont. Dieser Schauplatz wird bleiben und sich nur durch Licht und Farbe verändern. Sharpless, Konsul der USA, warnt den Landsmann vergeblich, das Mädchen nur für seine sexuellen Bedürfnisse zu benutzen. Doch vermag er gegen dessen Gefühlskälte und Desinteresse nichts auszurichten. Butterfly erscheint mit einer prächtig gekleideten Hochzeitsgesellschaft und ihrer Dienerin Suzuki. Im Gegensatz zu den phantasievollen Kimonos und den kunstvollen Frisuren und Masken wirkt der Bräutigam mit Trump Frisur im smarten rosa und grün gestreiften Anzug wie eine Comicfigur. Weil sie heimlich zum christlichen Glauben übergetreten ist, um sich zu „amerikanisieren“, wird sie vom Priester Bonzo verflucht und mit Schleim beschmutzt. Pinkerton, von dem ganzen Brimborium genervt und gelangweilt, schickt schließlich alle weg, um endlich mit Butterfly allein zu sein. Wie gerne möchte sie ihm ihre Geschichte erzählen, ihre kleinen Schätze zeigen und scheint nicht zu bemerken, dass ihn das nicht im Geringsten interessiert und gibt sich ihm hin.

Drei Jahre sind vergangen, Pinkerton ist längst in seine Heimat zurückgekehrt und Butterfly lebt alleine mit Suzuki, die natürlich das Schlimmste ahnt. Aber Cio-Cio-San ist sich abgrundtief sicher, dass ihr Mann zurückkehren wird und lässt keine Zweifel gelten. Das Geld wird knapp. Der Konsul erscheint, um ihr schonend beizubringen, dass ihr Warten vergeblich ist. Doch sie will davon nichts wissen und lebt mehr denn je die Illusion, dass eines Tages alles gut wird. Blind für die tatsächlichen Ereignisse ist sie so auf sich und ihren Lebenstraum fixiert, dass sie keine Wahrnehmung für das tatsächliche Geschehen und die Personen um sich herumhat, die neben ihr fast wie Statisten, macht- und kraftlos wirken. Heiratsvermittler Goro rät ihr dringend, Fürst Yamadorin zu heiraten, das Interesse an ihr hätte, um Not und Armut zu entgehen, aber da schwebt ein kleiner Raumfahrer vom Himmel, Butterfly präsentiert Pinkertons Sohn. Als tatsächlich ein amerikanisches Schiff anlegt, lässt sie überglücklich das ganze Haus mit Blumen schmücken und erwartet den Geliebten.

© Christina Iberl

Trügt der Schein oder ist er wirklich zu Frau und Kind zurückgekehrt? Es war nur ein Traum. Und wieder erscheint die riesige Videoprojektion von Butterflys Gesicht, maskenhaft, aber die Sprache der Augen ist eine andere: Ganz leise löschen Enttäuschung, Trauer und Schmerz jede Regung.

Konsul Sharpless ist angewidert von Pinkertons Verhalten, der mit seiner neuen Frau tatsächlich in Nagasaki ist. Er will sich mit Geld aus der Affäre ziehen, erntet aber nur Verachtung. Als Butterfly mit eigenen Augen ihre Nachfolgerin sieht, eine kalte, affektierte Barbiepuppe, die die Welt distanziert und emotionslos durch die Sonnenbrille betrachtet, ahnt sie endlich, dass sie sich verrannt hat. Das Kind soll mit nach Amerika, der Konsul und Suzuki scheinen noch die einzigen zu sein, die mit Mitgefühl und Anstand die Situation zu retten versuchen. Erst jetzt ahnt Pinkerton, was er getan hat, aber es ist zu spät. Cio-Cio-San ist schon auf dem Weg aus dieser Welt. Sie nimmt Abschied von ihrem Kind und erdolcht sich.

Es ist ein kleines Karussell an Personen, das Cio-Cio-San umkreist, sie aber nicht wirklich berührt.

Tamta Tarielashvili als großartige Suzuki steht ihr als Dienerin und Freundin zur Seite. Ihr klarer Mezzosopran zeigt Persönlichkeit und Linie. Sachlich, wissend und souverän betrachtet sie die Lage und übernimmt in einer Selbstverständlichkeit Sorge für Butterfly, ohne sie zu betütteln.

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Johannes Mooser spielt die Rolle des amerikanischen Konsuls mit Autorität, aber auch mit Mitgefühl. Sein kraftvoller, warmherziger Bariton zeigen einen Menschen, der Cio-Cio-San gerne Leid ersparen würde.

Neben ihm wirkt Nenad Čiča als B. F. Pinkerton blass. Als Retter für den erkrankten Alex Kim ist er mehr als ein Einspringer, denn er muss hier als bewusst emotionsloser und arroganter Dünnmann im albernen Ken-Outfit wenig profiliert und konturenlos auftreten. Dass der versierte Tenor die Rolle mühelos beherrscht und noch dazu in Rekordzeit Meininger Terrain inhalierte, verdient großes Lob.

Sara-Maria Saalmann als seine Frau Kate verkörpert das perfekt gestylte arrogante American Girl, das abseits distanziert diese lästige Geschichte möglichst ohne Aufsehen erledigen möchte. Auch diese Nebenrolle ist wirkungsvoll und exzellent besetzt und hinterlässt Eindruck.

Das gilt auch für Bassbariton Selçuk Hakan Tıraşoğlu, der als furchterregende Erscheinung einen kurzen aber wirkungsvollen Auftritt als Priester Bonzo hat und Butterfly verflucht und verstößt.

Schrill, windig und wendig wickelt Tobias Glagau als Heiratsvermittler Goro seine Geschäfte ab.

Deniz Yetim verkörpert eine Butterfly, die drei Entwicklungsstufen durchlebt. Stimme und Persönlichkeit wachsen in einem Spannungsbogen von der mädchenhaften Hellen und Euphorischen über das verstörende Obsessive bis hin zu Verzweiflung und Resignation. Diese Frau in ihrer unerschütterlichen Gewissheit eines Happy Ends spielt sie in einer solchen Wahrhaftigkeit, dass man vom ersten Augenblick an gefesselt ist. Ohne Ermüdungserscheinungen steigert Deniz Yetim diese Rolle stimmlich mit hoher Professionalität und wahrhaftem Charisma, das alles von ihr fordert. Als ihr beim Schlussapplaus Tränen der Erleichterung und Dankbarkeit kommen, berührt sie noch einmal mehr die Herzen des Publikums.

Der sparsame Aktionismus der Regie lässt Raum, die Musik in jeder Phase der Ereignisse bewusst wahrzunehmen. Das äußerst sensible Dirigat Chin-Chao Lins serviert keine Hintergrundmusik puccinischer Dauerbrenner, sondern schafft tatsächlich Charakter- und Situationsbilder. Instrumente übernehmen die Vision von Stimmungen und Ereignissen ebenso wie die faszinierende Lichttechnik. Äußerst reizvoll gelingen pseudofernöstliche Klänge, ungeheuer pathetisch die Katastrophe im 3.Akt, aber niemals schwülstig. Die Meininger Hofkapelle ist auch diesmal ein Garant für den Erfolg eines solchen Werkes. Das gilt auch für den Chor unter der Leitung von Roman David Rothenaicher.

Wieder bewiesen Regisseur Hendrik Müller und sein kongeniales Team, dass Oper begeistern kann. Diese Neuinszenierung hinterlässt einen leuchtenden Eindruck, Begeisterung, Riesenapplaus und Respekt. Wie kriegt man junge Leute ins Theater? So!

Inge Kutsche, 15. April 2024


Madama Butterfly
Giacomo Puccini


Staatstheater Meiningen

Premiere am 12. April 2024

Inszenierung: Hendrik Müller
Musikalische Leitung: Chin-Chao Lin
Meininger Hofkapelle

Weitere Vorstellungen: 17. und 26. Mai sowie 8. und 15. Juni 2024