Musical von Phelim McDermott & Julian Crouch und den Tiger Lillies
„Junk Opera“ nach Motiven aus „Der Struwwelpeter“
Als der Arzt und Psychiater Dr. Heinrich Hoffmann 1844 mit seinem Ur-Struwwelpeter ein Gedicht-Geschichtenbuch mit „drolligen“ Bildern schuf, das unfolgsamen Kindern drastisch zeigte, was ihnen alles passieren kann, hätte er bestimmt nicht gedacht, dass der Stoff noch im 21. Jahrhundert aktuell und sogar bühnentauglich sein würde. Mit „Shockheaded Peter“ kreierten die Briten Phelim McDermott, Julian Crouch und die Tiger Lillies ein Musical, das erstmals 1998 in London und 2000 in Hamburg aufgeführt wurde. Darin nur Kritik an autoritärer oder antiautoritärer Erziehung zu sehen, nach dem Motto: „Wer nicht hören will, muss fühlen“, wäre zu einfach. Grotesk, schrill, schräg, makaber und sadistisch, aber auch sensibel, jagt es die Zuschauer durch menschliche Abgründe mit diabolischem Spaß. Was läuft schief zuhause? Eigentlich alles. Welcher Regisseur, welches Ensemble sich das Stück auch auf die Fahne schrieb, hatte gewiss eines im Sinn: „Denen zeigen wir es!“
Wer ist gemeint? Kinder oder Eltern? Das Publikum muss selbst entscheiden.
Vom ersten Moment an zieht Leo Goldberg als Peter die Zuschauer magisch in seinen Bann. Natürlich liegt das an diesem überaus attraktiven Wesen im sexy Harlekinbody, seiner Löwenmähne, den spitzen Krallen, aber noch mehr an der facettenreichen Performance. Mit „Meine Damen und Herren und alle dazwischen, Mädchen und Jungen und alle dazwischen, Mutige und Unerschrockene, die ihr den Weg hierher gewagt, das menschliche Bewusstsein ist voller Ungeheuer: Seid gewarnt!“, begrüßt er das Publikum und setzt es unter Strom. Geschmeidig, einschmeichelnd, suggestiv und brutal, distanziert oder sensibel zeigt er als Moderator der folgenden Fallbeispiele, genannt „Sensationen“, sein Talent. Das fünfköpfige Ensemble, paritätisch besetzt, identifiziert sich in jeder Szene mit den Figuren, überzeichnet und karikiert sie mit Empathie aber auch Distanz. Jeder darf sich austoben, je wilder und schriller, desto besser. Mimik, Gestik, starke Stimmen und perfektes Timing passen. Das gilt auch für die Musik, eine Mischung aus Punk, Jazz, Musical und Vaudeville unter der Leitung von Hans-Jürgen Osmers, Tasteninstrumente, mit Florian Winkel, Percussion und Posaune, und Karl Epp, E-Gitarre. Sie befeuert, schlägt zu, haut drauf, macht Krach und klingt ganz selten weich.
Sound, Choreographie, Gesang und Sprache verschmelzen zu einem starken Cocktail, der es in sich hat. Für alle, die den Inhalt des Original-Struwwelpeters nicht kennen, vermitteln Showmaster Peter und Akteure überdeutlich, worum es in jeder Szene geht. Elf Situationen passieren Revue und es passiert Schreckliches, locker auf der Drehbühne serviert. Am Anfang stehen Kinderwunsch, Zeugung und Geburt eines Wesens, das wenig Freude auslöst: „Struwwi“, eine Puppe, mit ätzender Stimme, die, stets präsent als Marionette bewegt, das Alter Ego, den „evil twin“ Peters darstellt. Und nun beginnt sich das Karussell der tragischen Fälle zu drehen. Der „Suppenkaspar“ hat das Pech, alle Ernährungstrends auslöffeln zu müssen, die seine Eltern ihm einbrocken. Er hat die Schnauze voll und wehrt sich endlich, verweigert die Nahrung und stirbt. „Friederich“ erlebt und erleidet häusliche Gewalt, quält folglich selbst Tiere, bis ihn ein Hund totbeißt. Dem armen „Paulinchen“ fehlt das richtige Maß an Zuwendung, Liebe und Kontrolle, was an der Mutter vorbeigeht. Alleingelassen zündelt es, freut sich am wärmenden Feuer und verbrennt.
Die Stimmung auf der Bühne wird aufgeheizt, das Publikum zum Mitklatschen animiert, alles gewinnt an Drive. In der Szene vom „Wilden Jäger“ erwischt es nicht nur den Schießwütigen, sondern am Ende alle Hasen. „Konrad“, das hochbegabte Kind, befriedigt sich mit exzessivem Daumenlutschen, wilder Latin-Jazz begleitet das Szenario und während die Mutter ihrem Vergnügen nachgeht, schneidet man ihm die Daumen ab und er verblutet. Das Farbspiel Blut auf weißem Gewand assoziiert sie mit Kunst. Dem „Zappelphilipp“, einem hyperaktiven Jungen, geht es auch nicht besser. Die primitiven Eltern saufen und schimpfen, statt zu bemerken, dass der Sohn nur Aufmerksamkeit sucht. Er wird von Gabeln und Messern durchbohrt. In allen Fällen wirken die Väter und Mütter seltsam unbeteiligt, keinesfalls betroffen. Niklas, ein „böser Bube“, verdrischt auf dem Pausenhof jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Hier greift Peter einmal rettend ein und verhindert einen Mord. Häme, Wut und Anklage stocken. „I can‘t get no satisfaction“, aber das Karussell der Sensationen dreht sich weiter. Als „Hans-Guck-in-die-Luft“ sich dem Leistungsdruck seiner Eltern entzieht, in den Fluss fällt und ertrinkt, erkennt er auf einmal: „Das war ja ich!“ Was hat er selbst erlebt? Ein Fenster geht auf und noch einmal verspielen Helikoptereltern und Alkoholiker das Glück ihres Kindes. Peter sinniert über die Kreationen der Mutter Natur. Natürlich steckt in jedem Kind, in jedem Menschen Potential für Gemeinheiten und Grausamkeiten. Peter distanziert sich endlich von der Mörderpuppe „Struwwi“ und hat den Mut, in seine eigene schwarze Seele zu blicken und akzeptiert sie. Was macht er draus? Die Puppe entschwindet in den Äther und da ist auf einmal Raum für positive Phantasie, ein Hoffnungsschimmer.
Regisseur Philipp Moschitz rückt das aktuelle Fehlverhalten von Eltern in den Vordergrund. Die Kinder sterben nicht wirklich, sondern haben nur keine Chance, sich positiv zu entwickeln, wenn sie in einem ungünstigen Umfeld aufwachsen. Desinteresse, Lieblosigkeit und Gewalt, aber auch Leistungsdruck und Überbehütung verhindern, dass sich eine Persönlichkeit entwickeln und entfalten kann. „Shockheaded Peter“ ist nicht nur ein Lehrstück. Der Regisseur packt nicht die gesamte Misere Erziehungsberechtigter hinein. Er bleibt bei der Kinderbuchvorlage H. Hoffmanns, den Musicalautoren, katapultiert jedoch die Fallszenen mit Bühnenbildner Helge Ullmann auf eine riesige Drehbühne mit Lichteffekten unterschiedlicher Intensität und Farben. Das Ensemble in schrill schillernden und witzigen Kostümen aus der Ideenkiste Isabelle Kittnars belebt dieses kolossale Spektakel in unüberseh- und unüberhörbarer Präsenz. Dafür, dass es nicht zu einer oberflächlichen Non-Stop-Action-Revue verkommt, sorgen die Reflexionen und glasklaren Ansagen des Showmasters Peter, der in dieser Produktion sein beachtliches Talent beweisen konnte.
Alles andere als Junk, beste Unterhaltung, die Spaß macht und mit Sicherheit bei einem breiten Publikum ankommt: Weitersagen!
Gut übrigens, dass diesmal nicht nur Silberhaar in den Reihen saß, gut, dass man nach einer Stunde Spielzeit endlich begriffen hat, nicht immer mitklatschen zu müssen und an den falschen Stellen zu lachen. Kam es vielleicht doch an, wenn Peter auf eine „von den Medien verbildete Generation in ihrer Denkarmut“ anspielte, ganz vorn am Bühnenrand, ganz nah am Publikum?
Viel Applaus am Ende und großes Lob des Intendanten Jens Neundorff von Enzberg für diese gelungene Inszenierung. „In jedem von uns steckt ein Struwwelpeter.“ Spätestens jetzt sollten wir darüber nachdenken.
Inge Kutsche, 31.1.22
Fotos: Christina Iberl