Premiere: 3.6.2018
Äußerst kurzweilig, witzig, ernst und tiefsinnig
Kennen Sie den Film oder den Roman „Malpertuis“? Da finden sich einige höchst seltsame Gestalten in einer Familiengruft namens „Malpertuis“ zusammen; erst am Ende stellt sich heraus, dass es sich bei diesen verlodderten Gestalten nicht um Belgier des 19. Jahrhunderts, sondern um die alten, eigentlich schon längst verstorbenen griechischen Götter handelt, die Kraft der Zaubermacht des Familienoberhaupts – im Film spielte es der unvergleichliche Orson Welles – in die Gegenwart geholt wurden.
Wer sich in Nürnberg die Neuinszenierung von Monteverdis zweiter überlebender Oper „Il ritorno d’Ulisse in Patria“ anschaut und Jean Rays Roman und/oder Harry Kümels Film kennt, fühlt sich vielleicht daran erinnert. Denn so, wie die Götter in Mariame Cléments äußerst kurzweiliger, witziger und tiefsinniger, ernster und komischer, mit einem Wort: perfekter Inszenierung aussehen, könnten sie geradewegs aus jener Vergangenheit kommen, die von den belgischen Großmeistern des subtilen Horrors erfunden wurde. Neptun ist ein Kapitän, Jupiter ein alter Zausel, seine Göttergattin steht in der olympischen Kneipe hinter dem Tresen, Athene ist eine aufgemotzte junge Dame, die, als Göttin der Weisheit und des Wissens, gerne in Büchern blättert, und selbst Polyphem, der immer noch aus dem Auge blutet, fehlt hier nicht.
Ein wenig ähnelt das einer Travestie à la Offenbach, der sich bei den alten Griechen ja gut auskannte. Was travestiert wird, hat jedoch, und Cléments höchst einfallsreiche wie detailreich subtile – und textgetreue! – Inszenierung macht da kein Ausnahme, einen tiefen Sinn. Schon bei Monteverdi und seinem erstklassigen Librettisten Giacomo Badoaro waren die Götter Sprachrohre und Subjekte der Fantasie und sentenzenhafter Weisheit, die nur im Venedig des 17. Jahrhunderts entstehen konnte. Elend die Menschen, die von der Zeit und den Spielen der himmlischen Mächte abhängen – und töricht der Mensch, der sich gegen die Götter versündigt. Doch wäre Monteverdis Oper kaum für eine moderne Inszenierung zu gebrauchen, reduzierte sich der Gehalt auf derlei Setzungen. Die kongeniale Inszenierung wagt, nachdem man quasi in Champagnerstimmung in die Pause gegangen ist, nach der Pause den radikalen Sprung. Nun sind es die Götter in ihrem nicht sonderlich edlen himmlischen Quartier, die selbst – und erfolgreich – von der Rache jenes Menschen getroffen werden, mit dessen Leben sie vorher gespielt haben, weil sie sich selbst nicht vertragen konnten. So, und nur so, kommt es schließlich zum „Lieto fine“: durch Vernunft und einem Gran von Mitleid, durch das Wissen, dass man auch die Menschen nicht zum Äußersten reizen darf. Denn selbst Minerva, also Athene, die ja auch eine Kriegsgöttin ist und ihren Liebling bis zum bitteren Ende des Freierabschlachtens geführt hat, ist schockiert vom Effekt ihrer liebevollen Bemühungen um die glückliche, aber notwendigerweise blutige Heimkehr des listenreichen Odysseus.
Doch könnte die Oper nicht auch schlicht „Penelope“ heissen? Denn die wartende Gattin, die nur deshalb auf die Hand eines der vielen frechen Freier verzichtet, weil sie sich den Schmerz, den die Liebe im Fall des Falles auszulösen vermag, kein zweites Mal antun will, steht vielleicht im Zentrum der Anteilnahme. An diesem Abend könnte Monteverdis „Ritorno“ auch den Namen einer Titelheldin tragen, weil Jordanka Milkova mit ihrer profunden tiefen Stimme – eine vokale Novität in der Frühgeschichte der Oper – und ihrer vornehmen Ausstrahlung als Königin von Ithaka, ja: königlich wirkt. Wunderbar ist nicht allein ihr Lamento im großen, doch viel zu leeren Bett auf der Bühne auf der Bühne. Schlicht ergreifend ist alles, was Jordanka Milkova allein und zusammen mit ihrem Stückehemann macht. Erkennt sie ihren verloren geglaubten Mann nicht schon, als er in Bettlergestalt die Freier provoziert? Und ist es nicht bewegend, Minerva durch ihren Mund sprechen zu hören, als sie verkündet, dass nur der sie zur Frau nehmen könne, der es schaffe, den Bogen des Odysseus zu spannen? Was im Übrigen nur das umsetzt, was Penelope selbst bemerkt: „Was hat da mein Mund leichtfertig versprochen, was meinem Herzen widerspricht?“ Wie gesagt: die Inszenierung ist zugleich einfallsreich und strikt textgetreu.
„Magisch“: so nennt man wohl derart intelligente und herrlich sensible Momente, die aus Monteverdis und Badoaros Opus das pure, mit Verfremdungseffekten agierende Welttheater machen und die subtilste Psychologie im Musikdrama entdecken. Doch wieso, könnte man fragen, wehrt Penelope sich schließlich so lange, zu akzeptieren, dass Odysseus wirklich ihr Ehemann und kein Gott in Menschengestalt ist? Sie sagt es selbst: Sie sei die Gattin des „verlorenen“ Odysseus. Kein Wunder: das Blutbad, in das der Rachegott Odysseus die Freier getaucht hat (auch der Diener muss dran glauben, doch nicht, wie in der „Odyssee“, die Dienerin), zeigt ihn als einen Anderen: als Massenmörder. Der Schluss aber ist, denn die Regie respektiert das „Lieto fine“, keine Entfremdung, sondern die Wiedervereinigung der beiden Liebenden – und ein Blick auf die endlich ruhige und sonnendurchlichtete See.
Dass die Oper versöhnt und im glücklichen Schluss eine Hoffnung auszudrücken vermag statt auf irgendeine „Realität“ zu setzen: auch dies macht ja, gelegentlich, den Reiz der Gattung aus. Und realistisch, bei Gott, ist diese Inszenierung nun wirklich: in der Zeichnung der liebenswerten und komischen und zynischen Charaktere wie in der kompromisslosen Abrechnung mit den Freiern, in der Trauer über so viel Vernichtung; wenn die Dienerin übrigbleibt, die gewiss gerade an ihren Geliebten denkt, und den Schmutz aufzuräumen hat, während sich Penelope und Odysseus zum ersten Mal „richtig“ begegnen, sagen das Bild und die Musik mehr als 1000 Worte. Tua res agitur, diese Botschaft wird ja schon im Vorspiel ausgegeben, wenn die Allegorie der „Menschlichen Zerbrechlichkeit“ auf das Schicksal, auf die Dame Glück, die gleichzeitig das Unglück ist, und die Liebe trifft. Doch wahrt die Regie stets eine genaue und schöne Form: wenn Minerva NACH dem eher symbolischen Abschuss der Freier die Treppe mit Blut überschüttet, wenn ein plötzlicher Lichtschein – ein schlichter, doch beeindruckender Coup – auf den plötzlich den Bogen spannenden Odysseus fällt und alle Aufmerksamkeit in einem lebenden Bild fokussiert.
Schöne Bilder: Die gibt es in dieser Inszenierung zuhauf. Julia Hansen hat eine Bühne gebaut, die auf der Bühne zwei weitere Bühnen – ganz oben das öfters geschlossene Himmelstheater – und eine elegante Wandverschiebetechnik aufweist, um die Szene jeweils zu vergrößern oder zu intimisieren. Herrlich der monumentale Glitzervorhang, der so gut zum kokett beflügelten Glitzersmoking von Amor passt. Sie, die Liebe, spielt auch die Minerva: Michaela Maria Mayer meistert betörend die koloraturenreichste und in ihrer Beweglichkeit ungewöhnlichste Partie dieser auf die Deklamation gestellten Oper. Sie ist (auch wenn sie, pardon, unmöglich an „meine“ Theatergöttin aller Theatergöttinnen heranreichen kann, weil keine Darstellerin an die Pallas Athene der Jutta Lampe in Peter Steins Schaubühnen-„Orestie“ heranzureichen vermag) – kurz: die Mayer ist eine wunderbare, im Glanz ihrer frohlockenden Stimme und ihres souveränen Auftretens agierende Schutzgöttin, der sich Odysseus zurecht vertraut fühlen kann. Von ihrer Hand würde sich vermutlich auch manch Zuschauer wie zufällig berühren lassen, um jene Kräfte zu erlangen, über die ihr Heros einen Akt später verfügen muss… Wunderbar schon ihr Auftritt im „göttlichen Wagen“, mit dem sie witzigerweise den Telemaco nach Hause bringt – ein silbernes Luftsofa mit leuchtenden Druckknöpfen, die, unsachgemäß betätigt, auch eine Göttin ins Schwitzen bringen können.
Habe ich schon geschrieben, dass diese Meisterinszenierung den Homer mit tiefem Ernst, aber auch mit charmantem Humor ins Heute bringt? Darum bewegt auch die Erkennungsszene von Vater und Sohn, vor der prachtvoll illusionistischen Bergkulisse, hier so bezwingend und rührend. Telemaco, auch er hat bewegteste Koloraturen zu singen, ist mit Martin Platz glänzend besetzt. Nach dem Tamino, dem Matthäuspassionsevangelisten etc. etc. hat er seiner Rollenliste ein weiteres Glanzstück hinzugefügt. Auffallend auch der Tenor des Alex Kim, dessen guter Schweine-Hirt Eumete rollendeckender und vokal genauer nicht sein könnte. Es ist überhaupt erstaunlich, dass die Technik des „recitar cantando“, die einem „normal“ ausgebildeten Sänger vielleicht nicht unmittelbar zu Gebote steht, an diesem Abend stilistisch meist sehr überzeugend gemacht wird. Also müssen auch genannt werden: Iestyn Morris als „menschliche Zerbrechlichkeit“ und Freier Pisandro, Alexey Birkus als „Zeit“ und als Nettuno, die gefeierte Irina Maltseva als blondes Gift namens „Schicksal“ und als Sexy Melanto, die sich vom ungerecht und furchtbar gestraften Eurimaco alias Dávid Szigetvari gern begrabschen lässt. Hans Kittelmann ist Giove und der Freier Anfinomo. Unter der Gruppe der Amanten, die der zu heiratenden Frau die Modelle ihrer Eigenheime als Geschenke eitel darbringen, ragt Wonyong Kang als Primus inter pares heraus. Er ist es, der vergeblich ein Komplott gegen Telemaco und seinen Vater startet – kein Wunder: der Mann ist ein dramatisch profunder Bass. Yongseung Song besticht mit den parodistischen Koloraturen des komischen Schmarotzers Iro. Martina Langbauer überlebt, als treue Amme Ericlea (mit züchtiger Kopfbedeckung, denn Kleider machen Leute, auch und gerade auf dem Symboltheater), das Massaker und darf wenige, aber wichtige Sätze rezitativisch beisteuern. Nicht ganz unwichtig sind auch die Statisten; die drei Najaden, in denen Odysseus buchstäblich badet, dürfen während des Freierschlachtfests jene Spruchblasen hochhalten, die wir aus Comics kennen: Smash, Bang, Slosh… Humorvolles Verfremdungstheater, das Spaß in die Sache bringt – und den Kontrast zur ernsten Frage, was denn das alles für Götter und Menschen bedeute, umso markanter ermöglicht.
Bleibt – die Hauptrolle neben der Hauptrolle der Penelope. Mit Ilker Arcayürek tritt ein Mann auf die Bühne, der vor einigen Wochen als anderer berühmter Opernheimkehrer aus dem Trojanischen Krieg, also als kretischer König Idomeneo, einen schönen Erfolg hatte. Wieder lässt er, diesmal nicht nur in Trauer, auch in wütendem Zorn und viriler Agilität, seinen warmen Bariton zu Gunsten einer tief empfundenen dramatischen Gestaltung ausströmen. Müsste man zwei Gründe benennen, die zum Erfolg dieses Abends wesentlich beigetragen haben, so würde man zuerst Arcayürek und seine Partnerin nennen. Und natürlich die Mayer…
Und das Orchester, das am Ende so gefeiert wird wie das Ensemble und die „Schwarzen“. Wolfgang Katschner, Leiter der Lautten Compagney, hat ein Spezialteam zusammen gestellt, das Monteverdis sparsam notierte Partitur mit Fantasie zum Leben erweckt. Die Frage, die letzten Endes nicht entschieden werden kann, bleibt: Führt man den Notentext mit wenigen Streichern und Cembalo auf? Vor 20 Jahren wurde in Nürnberg eine Aufführung der „Incoronazione di Poppea“ mit einer derartigen Besetzung gemacht; sie war klanglich und akustisch völlig ausreichend. Dies nur als Argument gegen die These, dass das Orchester eines Hauses, das doppelt so viele Zuschauer fasst wie das Teatro S. Cassiano, in dem Monteverdis Werke gespielt wurden, mit wesentlich mehr Spielern ausgestattet werden muss, obwohl ein venezianischer Orchestergraben nicht mehr als etwa ein Dutzend Spieler aufnehmen konnte. Nikolaus Harnoncourt entschied sich vor einem halben Jahrhundert dafür, das Instrumentarium mit Holz- und Blechbläsern, einer Harfe, nicht weniger als drei Posaunen und allerlei anderen schönen zeitgenössischen Instrumenten zu erweitern, wobei er auf nicht weniger als 29 Instrumente kam. Als Ivor Bolton das Werk 2001 im riesigen Raum des Münchner Nationaltheaters realisierte, begnügte er sich mit 20, wobei der Kritiker der „Zeit“ bemerkte, dass der Klang etwas unausgewogen sei. In Nürnberg glückt mit 5 Streichern, einer Blockflöte, einem Cornett, nur einer Posaune, zwei Lauten, einer Harfe, einer Gambe und einer Lirone, zwei Cembali, einer Orgel und einem Regal, also einer Art Kleinorgel, eine nicht ganz kleine, mittlere Lösung. Die Personencharakterisierung durch Instrumentation, die in der Partitur des „Orfeo“ etwas eindeutiger angelegt war, klappt hier hervorragend: Nettuno darf mit der göttergemäßen Posaune rezitieren, Jupiter klingt in Orgel und Regal, Penelopes Rezitative und Ariosi leuchten in Cembalo, Laute, Harfe. Um die Vor- und Zwischenspiele zu gestalten, hat Katschner, basierend auf der Pariser Fassung des Werks (von Emmanuelle Haim), auf Sätze der italienischen und deutschen Zeitgenossen Cavalli und Uccelini, Schein und Scheidt & Co. zurückgegriffen. Wenn zwischen dem letzten Chor der Götter und der Erkennungsszene, in der es gleichsam ans Eingemachte geht, eine Bearbeitung einer Toccata aus den Violinsonaten Alessandro Stradellas erklingt, die den tiefen Ton der Trauer über Götter und Menschen ins Stück einsenkt, verschwistern sich Schönheit und Schmerz. Wolfgang Katschner hat gesagt, dass es keine „alte Musik“ gäbe. Auch in diesem Sinne herrscht an diesem Abend das pure Opernglück. Das Venedig des Jahres 1640 ist plötzlich sehr nah in dieser modernen und zugleich klassischen Interpretation der tief bewegenden „Tragedia di lieto fine“.
Ungewöhnlich starker Beifall, schon zur Pause. Die Nürnberger Oper hat ihrem Programm, als Abschluss der Intendanz Peter Theiler, einen Edelstein hinzugefügt, der nicht mit der letzten Spielzeit des scheidenden Intendanten in der Versenkung verschwinden sollte.
Frank Piontek, 4.6.2018
Fotos: ©Ludwig Olah