Premiere: 13.5.2018
Über Humor kann man sich streiten…
Wer spielt eigentlich die Hauptrolle im „Barbier von Sevilla“? Die Titelfigur? Sicher nicht? Almaviva? Schon eher, aber… Rosina? Sie hat gute Chancen, jedoch…
Weder der Friseur noch der Graf noch das „Mündel“ haben das Anrecht, zur Hauptfigur einer Oper ernannt zu werden, die „nur“ einige attraktive Rollen aufweist. Es kommt wohl, wie immer, auf die Persönlichkeit des Sängers und der Sängerin an, die gerade den Figaro, den Almaviva und Rosina zu spielen hat. Die einzige Hauptrolle, die zweifellos und buchstäblich die erste Geige spielt, ist: Die Musik Gioacchino Rossinis. Dagegen kommt nichts an – am wenigsten die Figuren selbst, die wie Marionetten ihrer Autoren vom Wirbel und der Maschine der berühmten Rossinischen Crescendi und sehr lustigen Katastrophen gepackt werden. Denn die Oper nach Beaumarchais‘ erstem Teil der Figaro-Trilogie ist, anders als Mozarts Oper Teil II, keine Charakterkomödie. Sie ist, wie Ulrich Schreiber so schön gesagt hat, eine Protagonistenposse. Als Rodney Miles behauptete, dass alle Charaktere opportunistische Monster seien, so hatte er damit nur teilweise Recht. Opportunistisch? Gewiss. Monster? Das kommt auf die Betrachtungsweise an. Aber Charaktere? No, zweimal No. Dass Heinrich Heine, der auch ein scharfsinniger und als Musikkritiker politisch denkender Kopf war, aus der Musik Rossinis den ungebändigten Freiheitswillen des von fremden Mächten in Banden gehaltenen italienischen Volkes heraushörte, ist interessant, aber, da es hier um den „esoterischen“ Gehalt der italienischen Oper ging (wie Heine sagte), letzten Endes nicht beweisbar. Dass nicht wenige deutsche, sogar italienische Musikfreunde im technisch aufgeladenen Brio des „Schwans von Pesaro“ etwas Widernatürliches sahen: auch das ist verständlich. Der Freischütz ist eben nicht Figaro.
Wie also inszeniert man den „Barbier“? Mit dem bedenkenlosen Zugriff eines Mannes, der dem „großen“ Publikum das Futter für einen komischen und komisch sein wollenden Abend vor die Füße hinschmeißt, denn über Humor kann man nicht streiten. Das Nürnberger Premierenpublikum beklatscht jede Solonummer, was nicht nur, aber auch an der Inszenierung Joseph Ernst Köpplingers liegt. Köpplinger, im Moment Intendant des Theaters am Gärtnerplatz, hat viel Musical gemacht (etwa die grandios inszenierten „Gefährlichen Liebschaften“), also inszeniert er nicht wie Marthaler, sondern wie Köpplinger. Platte Witze kommen an, weil sie Rossinis eigentümlich maschineller Musik nicht widersprechen: Wenn eine sehr dicke Metzgerin im wohlorganisierten Chaos des ersten Finale, das nicht nur Rosina konsequent zucken lässt, immerzu vor dem Skelett im Sprechzimmer des Doktor Bartolo in Ohnmacht fällt und mühselig vom besorgten Metzgergatten (blutige Schürze) und seinen Rangen geweckt werden muss, ist das so blöd, dass es schon wieder gut ist. Absurdes Theater – ein wenig sogar, aber das ist vielleicht ein bißchen übertrieben, in der Tradition Ionescos und der Wiederholungsrouladen seiner „Kahlen Sängerin“.
Wenn Almaviva als „Musiklehrer“ Don Alonso („Ola!“) dem Doktor Bartolo deutlich und ziemlich buchstäblich um den Bart geht, indem er einen schwulen Priester chargiert, denkt man sich zunächst: O je, muss das sein? – aber Almaviva weiß schon, was er macht: den Bewacher in puncto „Männlichkeit“ in Sicherheit wiegen. Denn welcher schwule Priester würde schon die hübsche Rosina so begrabschen, wie es Almaviva ein paar Minuten später tut? Köpplinger legt Wert auf komische Details, die erst gar nicht andeuten, dass es sich bei Almaviva und Co. um ernsthafte Charaktere handelt. Der Graf ist ein Luftikus, der bereits ein paar Kinder in die Welt gesetzt hat und das sitzeneglassene Mädel rasch und vor allem problemlos mit ein paar Scheinchen abspeist (Auftritt des Kinderwagens), man wohnt im Rotlichtmilieu einer pseudorealistischen, also grob angedeuteten und ideenmäßig nicht wirklich vertieften, zu Ende gehenden Franco-Ära (Harald Thor entwarf schäbige und schön drehbare Holzhäuschen beim „Club Eros“, dessen Licht schon während der Ouvertüre die Apollogruppe des Bühnenrahmens beleuchtet), und man versucht erst gar nicht zu vertuschen, dass nicht die Liebe, sondern das Geld das Schmiermittel ist, das die Welt am Laufen ist; keine Einwände: das steht schon im Libretto. Ein stummes Faktotum, Don Bartolos Gehilfe, wackelt als Unglücksvogel durch die beide Akte, hängt vor dem Fernseher ab – wo er doch nur die Live-Übertragung der laufenden Barbier-Premiere sieht -, wird vom Blitz getroffen und deutlichst vom Hund gebissen; der Schauspieler Dieter Fernengel macht mit Inbrunst den Ambrosio.
Das alles ist blöd, schnell, oberflächlich und doch nicht ganz unpassend. Wie gesagt: Über Humor kann man nicht streiten. Dem Publikum gefällts, und es gefällt ihm, weil die Regie das Timing dieser nicht ganz so rasanten Screwball-Komödie (meist) mit Respekt für die Musik bedient. Wenn sich was schrägt, dann mit Sinn – und mit Poesie: nicht nur, dass Bartolos Haus zur Seite kippt, wenn Almaviva seine ersten Angriff auf dasselbe startet, indem er als Soldat maskiert die Szene betritt. Irgendwann, erst recht während des berühmten Gewitters, schwebt ein Haus sehr weit oben und sehr langsam in die Höhe und davon…
Das heißt: Die Sänger werden nur selten durch Aktionismus gestört. Wenn drei Prostituierte an Figaro herumgrabschen, wenn der sein Auftrittslied zu singen hat, wirkt’s zwar dilettantisch, weil brutal plakativ, aber Ludwig Mittelhammer, gesegnet mit einem schönen lyrischen, an diesem Abend sich leider nicht immer gegen die Orchesterwucht durchsetzenden Bariton, wird als Sonnyboy namens Figaro, der auch gern mal mit Rosina schnäbeln und sie sicher mit seiner Vespa ins Grüne fahren würde, wenn diese Komödie ihm nur Zeit ließe, nicht über Gebühr beim Wesentlichen gestört: der Exekution höchst schwieriger Stimmübungen.
Rein technisch ist, abgesehen, wie gesagt, von der gelegentlichen Dominanz des Orchesterklangs, wirklich nichts zu mäkeln: Ida Aldrian hat einen warmen Sopran, der die waghalsigen Koloraturen von „Una voce poco fa“ ebenso gediegen und sympathisch realisiert wie Martin Platz die lyrischen und komischen Äußerungen des Almaviva. Zusammen sind sie, mit ihren vornehmen wie launigen Stimmen, ein Traumpaar dieser Rossini-Oper. Nikolay Karnolsky. war im Nürnberger „Figaro“ einst der Figaro, nun ist er, mit seiner spezifischen vis comica, ein auch süffig spielender Basilio. Riesenbeifall für seine Verleumdungs-Arie!
Jens Waldig, darin seinem Partner gleich, spielt den Doktor Bartolo mit komödiantischer Lust: eben eine Posse. Bleibt die Berta der Eun-Joo Ham, deren Aria del sorbetto über die Liebe, die dumme Liebe, brillant, wenn auch zuletzt ein wenig forciert kommt, aber dies zu bemerken heißt schon, auf hohem Niveau zu beckmessern. Bleibt der wie immer glänzende (Herren-)Chor des des Staatstheaters, der sogleich de Richtung angibt: mit Tiermasken. Symbolischer geht’s nicht, aber glücklicherweise verläuft die Geschichte dann unblutiger, als es die Maske (Ausstattung: Gabriele Heimann) andeutet. Es wird auch nicht geschossen, trotz Franco-Anklängen.
Nochmal: Wer spielt eigentlich die Hauptrolle im „Barbier von Sevilla“? Eigentlich das Orchester… Volker Hiemeyer leitet die Staatsphilharmonie Nürnberg sicher durch die satirischen Landschaften. Die schwindelerregende Stretta des ersten Finales kommt ebenso brillant wie die Gewittermusik und der fröstelnde Geigenton der Verleumdungs-Arie. Wo bei Paisiello, also in dessen Barbier-Vertonung, menschliche Farbe zu sehen ist, begnügt sich Rossini mit scharfem Rhythmus, plappernden Trillern und überraschenden Instrumentaleffekten – aber was heißt hier schon „begnügen“? Der Abend will nichts mehr als gut zwei Stunden 20 Spielzeit unterhalten, er tut es: dank Orchester und einem Ensemble, das mit Lust beim Klamauk dabei ist. Anders wäre Rossinis geniales „Melodramma buffo“ auch szenisch nicht zu retten. Es sei denn, man inszeniert ihn wie Christoph Marthaler – die „Reise nach Reims“ hat er sich ja schon vorgenommen.
Frank Piontek, 14.5.2018
Fotos: ©Jutta Missbach