Nürnberg: „Tosca“

Premiere: 4.6.2011, besuchte Aufführung: 19.7.2018

Fotos siehe Premierenbesprechung weiter unten!

Wie gesagt: Der Kritiker ist auch nur ein Mensch. Auch er darf und kann sich irren, falls es überhaupt so etwas wie die totale Wahrheit auf dem Theater gibt. Oder anders: Er kann nach Jahren durchaus freundlich auf eine Produktion schauen, weil andere Sänger/Schauspieler auf der Bühne stehen und die vertrauten Rollen mit anderem Leben erfüllen oder weil man nun anders auf diese Sänger schaut.

Im Fall der „Tosca“, inszeniert vom designierten Nürnberger Intendanten Jens-Daniel Herzog, schrieb also der strenge Kritiker anno 2011: „Das Unglück wird im ersten Akt fundamentiert. Von ihm aus – der metaphorischen Idee, dass wir uns in einem Theaterraum befinden – erklären sich die Auswüchse der Sinnlosigkeit: bis hin zum Finale, in dem Tosca erwürgt werden muss, da man von einer völlig leeren Bühne nur in den Orchestergraben springen kann, aber dummerweise (dumm für die Regie) sitzen hier die Musiker.“ Also ein eindeutiger Fall von Konzeptionitis, die vorn und hinten wackelt. Der 2. Akt spielt in der modernen Garderobe der Sängerin, nachdem der erste zunächst in einem (scheinbar, wenn man nicht auf Details achtete,) vollkommenen, auf Alt getrimmten „realistischen“ Raum vor sich ging, also der bekannten römischen Kirche S. Andrea della Valle. Der dritte dann – man „liebt“ ja als Kritiker dieses verbrauchte Bild – auf der nackten, völlig leergeräumten Bühne des Theaters, in dem gerade die Oper gespielt wird. Also insgesamt ein Fall von Kopftheater, in dem, wie der Rezensent damals befand, „die Ängste und Sehnsüchte, die im letzten Akt gespielt werden, sinnlos werden, wenn Tosca im ersten Akt nur als Schauspielerin ihrer künstlichen Gefühle, nicht als pathetisch Liebende, als rasend Eifersüchtige agiert und die Leidenschaft des Begehrens zum bloßen Spiel erklärt werden.“ Das sei, so weiter im kategorisch-apodiktischen Ton, „ein Unsinn, der das Werk, wie es im Programmheft im schönsten Dummdeutsch heißt, ‚hinterfragt‘, um die Affekte nicht ernst zu nehmen, um derentwillen Menschen auf und jenseits der Bühne leiden.“

Tatsächlich kann man das alles, ohne sich zu verbiegen, auch ganz anders sehen. Ziehe ich nämlich einige Sonderbarkeiten und Widersprüche ab, die aufs Konto der gar nicht so dummen Idee vom falschen Schein, vom Theater auf dem Theater, von einer propagandistischen Kunstwelt innerhalb einer Diktatur gehen, bleibt tatsächlich ein ungeheuer spannender Abend, bleiben die absolut ernst genommenen Affekte und Leiden der drei Protagonisten übrig. Nun fand ich es gar nicht so schlimm, dass inmitten des fröhlichen Minstrantengesinges ein Kamera- und Regieteam für kurze Zeit die Illusion eines „schönen“ (Opern-)Inszenierung bewusst bricht. Geschenkt. Es konnte die Spannung und die dramaturgische Genialität des ungeheuren Bogens dieses Eröffnungsakts zwischen einer nur unwesentlich vom fliehenden Angelotti gestörten Liebeskomödie und dem ungeheuren Tedeum nicht stören. Auch der gesamte zweite Akt, also der Garderobenakt, ist von packendster, logischster Stärke; dies nicht allein deshalb, weil Puccinis, Giacosas und Illicas blutige Dramaturgie nicht zu schlagen ist. Es ist tatsächlich logisch, das Verhör in einem heutigen Theater selbst und das Gespräch mit der Diva in „ihrem“ Haus, dem Zentrum ihrer Kunstwelt anzusiedeln.

Dies nämlich ist purer Realismus; dass ein Terroropfer auf der leeren Bühne eines Opernhauses von den Handlangern und Bluthunden der Macht skrupellos hingerichtet wird ist nicht weniger wahrscheinlich als das Massaker an einer Volksgruppe in einem Fußballstadion. Man hat es erlebt, denn die Wirklichkeit ist bekanntlich viel grausamer als jedes „Regietheater“. Und der italienische Tenor David Yim, der schon 2011 der Cavaradossi war, und die wunderbare Katrin Adel spielen so berührend und detailgenau, dass die Frage, wo das alles stattfindet, relativ unwichtig ist. Nicht abgesehen von den spannungsvollen und bösen Begegnungen zwischen Scarpia und Tosca. Wieder spielt Mikolaj Zalasinski (auch dieser großartige und intensiv agierende Sänger und Schauspieler verlässt nun das Haus) den sadistischen Polizeichef mit rollendeckender Deutlichkeit. Nicht nur der spektakuläre erste Auftritt gelingt hier auch szenisch erschreckend. Gänsehautmusik! Und der hervorragende Chor des Staatstheaters tut wieder sein Allerbestes.

Überhaupt die Adel: Das Mädel von Fürth hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere am Nürnberger Haus absolviert. Mit der Tosca krönt sie ihre Mitgliedschaft, die mit dieser Aufführung, dank Entlassung, zu einem ersten Schluss kommt. Sie realisiert so etwas wie eine Quadratur des Kreises, indem sie sowohl die lyrischen als auch die dramatischen Teile der Rolle drauf hat. Sie rührt, bewegt und lässt den Opernaficionado nicht automatisch an die berühmteste Rollenvertreterin dieser anspruchsvollen, weil vielfältigen Partie denken. Und man begreift, warum Cavaradossi die „feurige“ Floria Tosca liebt, obwohl oder besser: weil sie ihm so herrliche Szenen macht – und weil sie, die über eine eigene emotionale Intelligenz verfügt, sich mit dem Geliebten in einen zärtlichen langsamen Walzer hineinschwingen kann, wenn es an der Zeit ist, die Furie beiseite zu legen (dies gegen den wie üblich dogmatischen Attila Csampai geschrieben, der im Rowohlt-Opernführer „Tosca“ den Charakter der Tosca überkritisch, damit wohl auch tendenziell falsch sah). Also: auch en detail bietet diese „Tosca“ ein erfülltes, weil genaues und zugleich musiksensibles Theater.

Wer bleibt noch zu nennen? Jens Waldig, der wie Katrin Adel und der in Nürnberg vokal und gestisch ins Große gewachsene David Yim, singt einen guten Messner, Wonyong Kang einen ausgezeichneter Angelotti, Hans Kittelmann einen Dreckskerl von Spoletta: ein Technokrat des Terrors mit einer vergleichsweise schütteren Stimme. Ida Aldrian (auch diese gute Sängerin verliess leider mit dieser Aufführung das Haus) sprang in der kleinen, aber immer wieder berührenden Partie des Hirten ein; dass er jetzt eine Sie, nämlich eine Putzfrau auf der leeren Opernbühne war, hatte Sinn – denn die Seufzer, die ein Hirte im Jahre 1800, im Uraufführungsjahr des Meisterwerks und im Juli 2018 aussingt, dürften identisch sein.

Keine Einwände also, euer Ehren. Riesenbeifall für einen glanzvollen, packenden und – ja – konzeptionell überzeugenden Opernabend, in dem die unüberhörbare Schönheit (so haben es die Schöpfer der „Tosca“ gewollt) irgendwo am zeitlosen Dreck klebt, den die brutale wie realistische Handlung auch nach 118 Jahren noch aufweist.

Frank Piontek, 20.7.2018

Fotos © Jutta Missbach