Am Abend des 31. August 1928 verhielt sich das Publikum trotz der tropischen Temperatur zu Beginn der Vorstellung noch eisig. Es schien, als sollte die Produktion schon bald sang- und klanglos in den Annalen der Theatergeschichte verschwinden. Da, plötzlich, beim Kanonensong, wurden die Leute wach und verlangten die erste Wiederholung dieses Abends – und Die Dreigroschenoper konnte ihren Weg in die Theatergeschichte einschlagen.
In Nürnberg jubeln sie schon nach der ersten Nummer.
Kein Wunder: Die Dreigroschenoper, also das Werk, mit dem der Komponist Kurt Weill und der Dichter Bertolt Brecht nach der revolutionären Mahagonny-Oper endgültig Ruhm erlangten, diese Oper, die keine ist und schon lange nicht mehr an der Pegnitz gespielt wurde – diese Oper wird am Abend derart effektvoll, brillant, witzig und schnell, dabei doch auch ernst und scharfzüngig über die Rampe gebracht. Kein Wunder: Man hat nicht allein ein beeindruckendes Aufgebot von Darstellern und spielenden, singenden und tanzenden Leuten auf die Bühne gebracht, die das Publikum schon in den ersten Minuten rocken. Man hat dem Werk auch eine Bühne gebaut,
die originell und gleichzeitig so einfach wie sinnfällig ist – und dem Mackie Messer geradezu zirzensische Auftrittsmöglichkeiten bietet. Hier wird, wie der Brecht-Kenner Fritz Hennenberg einmal schrieb, die Gleichzeitigkeit von „Amüsement und Schärfe“ realisiert, die der Aufführung einen sagenhaften Erfolg beschert. Es sollte mich wundern, wenn die erste Serie nicht komplett ausverkauft wäre; die Premiere war jedenfalls schon mal bis auf den letzten Platz besucht.
Was sieht man nicht alles am Abend! Ein steppendes und äußerst witziges, aus zwei Menschen zusammengestecktes Zirkuspferd, einen Macheath, der manch Song kopfüber angekettet, dabei völlig souverän über die Rampe bringt. Eine Polly, die es stimmlich und dramatisch in sich hat, einen großartigen Peachum, dem Frau Peachum ein absolutes Gegengewicht ist. Eine Lucy, die grandios herumzetert, ein Tanz- und Spiel-Ensemble aus Bettlern, Huren und Polizisten, das sich gewaschen hat. Tempo,Tempo, das war das Motto Berlins in den 20er Jahren. Tempo, Tempo, das ist auch die Devise dieses Abends, an dem sich Blöd- und Tiefsinn quasi unterschiedslos abwechseln. Was also sieht man?
Man sieht eine Einheitsbühne mit einem riesigen, von Mathis Neidhardt entworfenen Rund, halb Revuereifen, halb Glücksrad der Fortuna, auf dem sich die vier Spielorte 1. Peachums Büro, 2. Bordell, 3. Knast und 4. Pferdestall nicht allein während der Zwischenmusiken drehend abwechseln. Irgendwann gerät Mackies Welt aus dem Lot – und der Held darf, wie gesagt, hoch über dem Bühnenboden kopfüber agieren (Szenenbeifall, natürlich). Der „Versuch, der völligen Verblödung der Oper entgegenzuwirken“, wie es in der bekannten Formulierung des Dichters heißt, wird mit einem Arrangement realisiert, das weder auf Identifikation (das wäre kontraproduktiv) noch auf simple Demonstrationen (die wären öde) setzt. Für Brecht und Weill war die „Lust“ am Theater keine Begleiterscheinung eines gelungenen Dramas, sondern seine Bedingung – in Nürnberg hat der regieführende Hausherr Jens-Daniel Herzog dem Stück keine neue Ebene eingezogen, sondern einfach „nur“ mit Lust den gut gekürzten Text inszeniert: und mit grandiosen Sängern, die gut spielen, und hervorragenden Spielern, die gut singen können. Nicolas Frederick Djuren ist, als durchaus unsympathischer und angemessen humorloser Repräsentant der Gangstergilde, also als Macheath, eine Traumbesetzung: als kraftvoll protziger wie feiger Typ, der mit ungeheurer Power die Bühne durchmisst, bis er, vor seiner traumhaften Rettung, eine letzte stolze Ballade für die Nation singt.
Wie gesagt: vom Himmel des Kerkers bis zur Hölle der Gangsterwelt; der riesenhafte Mond, mit dem der Abend optisch beginnt, wächst ihm nicht über den Kopf, auch wenn er in Soho besungen wird. Die Ballade, seine Ballade, singt er übrigens gleich selbst – und wie er sie singt! Im Puff vergnügt sich der Anti-Held mit einem Corps von fett ausstaffierten, auch androgynen Huren, die 20er Jahre treffen auf die sexuellen Interessen der Gegenwart. Corinna Scheurle darf hier als betont lasziv, also fast parodistisch auftretende Spelunken-Jenny und als eine der wenigen Opern-Sängerinnen dieses Abends zeigen, wie Weill-Gesang klingt, wenn er nicht von singenden Schaupielern gemacht wird. Die Polly Inga Krischke kommt dagegen vom Musical; das ist gut, nein: sehr gut, weil die Songs der Dreigroschenoper zwar nicht klassisch gesungen, aber auch nicht bloß rezitiert werden sollten. Inga Krischke hat dafür exakt den richtigen Ton, das rechte Timbre und das vollkommene Timing – sie spielt eine geradlinige wie harte Polly, die das Erbe ihres unwürdigen Mannes zweifellos perfekt verwalten würde, inbegriffen: ein paar schattenboxende Faustschläge für die frechen Jungs; wer nicht zu Boden fällt, wird vom Pferd erledigt. Wie sie das Lied der Seeräuber-Jenny macht: das ist so grandios wie gestisch klar, und wenn ihr später, im Zankduett mit Lucy, der Hut vom Kopf fliegt, um tief hinten im Orchestergraben zu landen, zeigt‘s nur an, wie vital auch sie an diesem enorm kurzweiligen Abend agiert.
Ihr Papa, also Peachum, hat mit Michael von Au eine dezent raubeinige wie feinsinnige Interpretation gefunden. Der einstig jugendliche Liebhaber, der zuerst bei Dieter Dorn Triumphe feierte (im Lear, im Kaufmann von Venedig, im Käthchen von Heilbronn, solche durchaus unvergesslichen Sachen halt), dann im deutschen Fernsehen als Schmonzettenkönig agierte, zeigt, wie gut seine Ausbildung war. Man fragt sich wieder: Wieso nur gibt es in Deutschland so wenige gute Rollen für die zahlreichen guten Schauspieler? In Nürnberg kann Michael von Au zeigen, dass er „es“ noch drauf hat: dieses direkte, schlackenlose, spitzfindig-ironische Understatement, mit der er eine Rolle gestaltet, die nicht Typ und die nicht Individuum ist – und die man doch, wird sie von von Au gespielt, nur als dankbar bezeichnen kann. Daher darf er auch im ersten Finale fleißig mit dem Zeigefinger wedeln, ohne dass man den Eindruck hätte, dass man im didaktischen Theater säße. Lisa Mies ist Frau Peachum, sie spielt unverblümt, kraftvoll und kunstvoll, sodass selbst die Derbheiten wie schönste Blüten einer verfeinerten Schauspielkunst wirken. Sie sind‘s ja auch; Brecht hätte sich gefreut.
Zu den Opernsängern gehört auch Chloe Morgan; Lucys Arie, die 1928 gestrichen werden musste, weil Kate Kühl sie nicht singen konnte, bekommt in Nürnberg einen besonders langen, tontechnisch witzig verlängerten und verstärkten Applaus, wofür man nicht einmal den viel zitierten Begriff des „epischen Theaters“ in Anschlag bringen muss. Hans Kittelmann ist der zweite Opernsänger, daher kann er auch den „reitenden Boten“ opernmäßig singen. Als Tiger-Brown singt er nicht allein zusammen mit Djuren einen mitreißenden Kanonensong; im Ensemble steht er zusammen mit allen Akteuren auf der Bühne, um die Masse zu vergrößern. Episches Theater halt, aber auch eine Revue, ausgestattet mit jenem Tiefsinn, den Brecht und Weill an der Oberfläche versteckt haben – auch an der Oberfläche der Musik, die zwar den Tonfall von 1890 imitiert, aber ganz und gar 20er Jahre ist. Oder anders: ganz und gar Weill. Das kleine Orchester, nicht mehr als ein Dutzend Instrumentalisten, spielen jedenfalls unter Max Renne den Sound von 1928 auf denkbar idiomatische, rhythmisch gespannte Weise, dass er stracks in die Glieder fährt.
Aber wirkt Die Dreigroschenoper auch heute noch wie damals? Natürlich nicht. Beruht der ungeheure Erfolg, den die Inszenierung und die Sänger-Schauspieler schon während der Aufführung einheimsen, auf jenem bekannten „Missverständnis“, dass Kritiker immer wieder feststellen zu müssen meinten, wenn sie vom zeitgenössischen Erfolg der Dreigroschenoper beim bürgerlichen Publikum sprachen, das Brecht und Weill doch meinten, als sie die Räuber als Bürger, damit auch die Bürger als Räuber auf die Bühne brachten? Wie gesagt: Amüsement und Schärfe halten sich am Abend vollkommen die Waage. Wenn im Dritten Dreigroschen-Finale der Schlusschoral ertönt und das Ensemble coram publico Brechts und Weills letzte Dreigroschenbotschaft ins Publikum sendet, wird sie nicht deshalb entwertet, weil schon kurz darauf der Jubel über den Protagonisten hereinbricht. Denn „die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten, wenn die Getretenen widergetreten haben“. Der Satz trifft Vieles, über und mit jedem Scherz dieses in bestem Sinne witzigen Abends.
Wie gesagt: In Nürnberg jubeln sie schon nach der ersten Nummer.
Frank Piontek, 20. Januar 2025
Die Dreigroschenoper
Theaterstück von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 18. Januar 2025
Regie: Jens-Daniel Herzog
Musikalische Leitung: Max Renne
Orchester des Staatstheaters Nürnberg