Nürnberg: „Mathis der Maler“, Paul Hindemith

„Für den normalen Theaterbetrieb“, heißt es in einem alten Opernführer, „will dieses geringe dramatische Geschehen keinen rechten Reiz bieten. Die gesamte Anlage verweist ‚Mathis‘ eher in den Bezirk der Festspiele.“ Auch Opernführer haben ihre Zeit. Dabei war 1968 das Werk, um das es hier geht, noch kein gar so seltenes Kind auf den Bühnen. Hindemiths „Mathis der Maler“ – ein „Festspiel“? Es fällt zumindest auf, dass sich Roland Böer, der neue GMD der Nürnberger Staatsphilharmonie, keine „populäre“, sondern eine heute seltene Oper zu seinem Einstand gewählt hat, die, hören die Opernfreunde (die die Oper nicht kennen) nur den Namen des Komponisten, vermutlich als „schwierig“ gilt. „Schwierig, nä?“, diesen Satz konnte man ja vernehmen, als man zur Pause den Saal verließ. Zugegeben: Die Künstleroper über den nach wie vor biographisch nur spekulativ zu eruierenden Meistermaler ist – im Vergleich zu den „Meistersingern“, selbst zu Pfitzners „Palestrina“, mit dem sie gelegentlich verglichen wird – ein zumindest textlich, harmonisch und melodisch „herbes“ Werk (noch so ein Schlagwort aus der Hindemith-Rezeptionskiste).

© Pedro Malinowski

Dabei macht es, wenn man’s wie in Nürnberg bringt, volle Wirkung. Dazu bedarf es eines Ensembles, auf und unterhalb der Bühne, zumal einiger sehr präsenter Hauptdarsteller und -Darstellerinnen, die Hindemiths durchaus dramatisch grundierte Tonsprache mit Verve und vollem Einsatz bringen. Also steht Samuel Hasselhorn als primus inter pares auf der Bühne: vom ersten bis zum letzten gesungenen Ton. Mit seiner genauen Artikulation und seinem warmen Stimmklang bezaubert er bis zuletzt das Publikum, um den selbstkritischen, an der Welt leidenden Künstler zwischen Macht und Minne, Politik und pittura als Charakter darzustellen. Die Rolle verlangt viel, auch viel Durchhaltekraft, so dass der Bariton auch noch – dies mag mit den „Meistersingern“ vergleichbar sein – seine lyrischen pianissimi nach drei Stunden deliziös formulieren kann. Riesenbeifall also für den großartigen Interpreten dieser großen Rolle.

Riesenbeifall auch für den Chor, der neben Ursula Riedinger und Albrecht von Brandenburg eine weitere Hauptrolle ausfüllt. Zwar wurde die Partitur um eine gute halbe Stunde gekürzt, was gut für die Dramaturgie, aber schlecht für den Hindemith-Liebhaber sein mag, zumal auch die Sterbeszene der Regina gestrichen wurde, die man als Pantomime in das nachfolgende Orchesterzwischenspiel der „Grablegung“ verlegte. Doch hat der Chor immer noch immens viel zu tun; unter Tarmo Vaask beweist der Chor des Staatstheaters nicht allein in der sich klanglich gewaltig auftürmenden Dämonenszene des 6. Bilds seinen Rang. Großartig agiert auch Emily Newton als Ursula Riedinger (und als Bettlerin, Buhlerin und Märtyrerin im Versuchungs-Bild); das Duett des 3. Bilds wird zu einem der emotionalen Höhepunkte des Abends. Wer da noch behauptet, dass Hindemith „herb“ klinge, sollte diese Produktion besuchen… Ebenso betörend: Chloe Morgan als Regina: glockenhelle Stimme, intelligenter Ausdruck – alles ist da. Den Albrecht von Brandenburg mimt, mit schneidend hellem Organ, Zoltan Nyari, Martin Platz ist ein wie üblich präzis agierender Capito. Hans Kittelmann wirft sich, meist blutüberströmt (bis in seine Wiederkunft als Kriegsherr im Visions-Bild), in die Rolle des Bauernführers Hans Schwalb, Nicolay Karnolsky spielt den Riedinger, soll man sagen: rollendeckend? Taras Konoshchenko macht den Pommersfelden (kürzer, als ihn Hindemith komponiert hat) – und last not least muss Almerija Delic genannt werden, die als Gräfin Helfenstein und dann als Allegorie der Üppigkeit zwei vokal und spielerisch schwer beeindruckende Szenen absolviert. Chapeau für das Ensemble und die weiteren singenden und „nur“ spielenden „Kleindarsteller“.

© Pedro Malinowski

Man hat übrigens nicht nur die erwähnten Szenen, auch den Beginn des Bücherverbrennungs-Bilds gestrichen, sondern auch etwas hinzugedichtet. Vor dem Bauernexzess tritt plötzlich Nicolas Frederik Djuren auf, um als Vertreter des Prekariats den Leuten im Parkett, die sich die teuren Opernkarten leisten können, die Leviten zu lesen und den Sturm ins Haus anzukündigen. Das ist nicht fein, zieht aber eine durchaus unwillkürliche Verbindung zwischen der Spielzeit der Oper und der Gegenwart: und deutlicher, als Hindemith es beabsichtigte, als er Mitte der 30er Jahre sein Werk als Parabel auf die Gegenwart anlegte. In Nürnberg setzt Regisseur Jens-Daniel Herzog das Geschehen in einen von Mathis Neidhardt (!) entworfenen white cube, der im Ablauf des Abends naturgemäß verschmutzt und zerstört wird, bevor sich im letzten Bild ein goldener Bilderrahmen vor die inzwischen nachtdunkle Bühne senkt. Grünewald zieht sich in seine Welt zurück, nachdem er die blutigen Exzesse der „realen“ Welt erfuhr (es sieht ganz danach aus, als ob er, warum auch immer, das Kind Double Reginas selbst erstickt). Während des Vorspiels sehen wir einen von Rebecca Riedel und Coco Bayer erstellten Videofilm, in dem wir Einiges über die Vorgeschichte der Hauptfiguren erfahren, die sich alle aus alten Kommune Zeiten kennen, bevor sie ihre ganz persönlichen und, bis auf Schwalb, durchaus nicht revolutionären Wege gehen. Die Sache macht Sinn, denn die Konstellationen, wie sie die Oper erzählt, werden damit tiefenscharf motiviert. Da nimmt man Abschliffe zwischen Spielzeit und Gegenwartsbehauptung gern in Kauf; dass einem katholischen Kirchenfürst eine protestantische Frau zur Heirat angeboten wird, damit der zum Luthertum überläuft, ist ein Anachronismus, den man ertragen kann, weil die Beziehung zwischen Albrecht und Ursula auf die sensibelste Weise dargestellt wird: Niemand wird hier denunziert. Hinter all den thesenhaft-dichten Satzkonstruktionen Hindemiths bleibt die Frage nach dem gesellschaftlichen Engagement des Künstlers notwendigerweise offen und das Wesentliche szenisch unverstellt: die Feinheit einer Musik, die in Sachen Lyrik und Dramatik zutiefst bewegt – woran die Staatsphilharmonie (und Hindemiths souveräne, äußerliche Effekte vermeidende Instrumentationskunst) wesentlichen Anteil hat. Also: Kein „Festspiel“, sondern ein großer Abend für ein großes Werk. Also vielleicht doch ein Festspiel.

Frank Piontek, 2. November 2023


Mathis der Maler
Paul Hindemith

Opernhaus Nürnberg

Besuchte Vorstellung: 1. November 2023
Premiere: 1. Oktober 2023

Regie: Jens-Daniel Herzog
Musikalische Leitung: Roland Böer
Staatsphilharmonie Nürnberg