Nürnberg, Ballett: „Boîte-en-valise“, Retrospektive

Boîte-en-valise, zu deutsch: „Schachtel im Koffer“ – so heißt ein bekanntes Werk des Konzeptkünstlers Marcel Duchamp, das aus den Materialien bzw. Elementen Karton, Textil, Glas, Holz, Kunstleder und Keramik besteht. Denkbar divers, denkt sich der Ballettbesucher, als er am Schluss der Saison 2022/23 das besucht, was man früher, nicht zu Unrecht (und durchaus lobend) als „Bunten Abend“ bezeichnet hätte. Die Schachtel, genauer: die Schachteln, die sich in Goyo Monteros Koffer befinden, sind gleichfalls denkbar unterschiedlich. Montero lud also acht der insgesamt 20 Choreographen ein, die in den ersten 16 Jahren seiner Nürnberger Compagniecheftätigkeit an der Pegnitz choreografiert haben – es sind acht Handschriften, die, zwischen William Forsythe und Mauro Bigonzetti, Mats Ek und Cristian Spuck, die schönsten Möglichkeiten modernen Tanztheaters ausloten.

„Rain Dogs“ von Johan Inger / © Staatstheater Nürnberg / Jesús Vallinas

Mit ihren Erinnerungen an einstige Nürnberger Erfolge hat Montero nicht zuletzt der Tanzkunst ein wenn auch vergängliches Denkmal gesetzt; hinzu kamen sechs eigene kleine Choreographien Monteros, die ihrerseits ganz verschiedene Schachteln seines Nürnberger Theaterkoffers enthalten. Zu einzelnen, jeweils kurzen Etüden Frederic Chopins kreierte er eine Art Autobiographie, die sich der Nacherzählbarkeit entzieht, weil die sieben Stationen das Innerste nach Außen zu kehren scheinen – und doch in ihrem Kunstcharakter gewürdigt werden müssen. So etwas heißt dann „Then“, „Lost/Found“, „Un/Balanced“ und schließlich „Now“. Wieder verblüfft und überzeugt die Zauberkraft seiner Arbeiten, die er diesmal in sich steigernden Begegnungen – mit sich selbst, mit dem oder der Anderen, mit der Gruppe – die Nürnberger Jahre noch einmal Revue passieren lassen: von ersten Zweifeln über sensible und härtere Begegnungen zum Gruppenerlebnis Tanz. Montero bleibt auch mit den „kleinen“ Arbeiten der Großmeister einer Fantasie, die das sogenannte Leben als Ausgangspunkt benutzt, ohne es zum Material herabzuwürdigen.

„Minus 16“ von Ohad Naharin/ © Staatstheater Nürnberg / Jesús Vallinas

Einer Revue gleicht ja schon das ganze Programm, in das Montero seine neuen Choreographien rhythmisch eingelegt hat. Johan Ingers „Rain Dogs“ besitzt den Humor, den „synchron getanzte Minibewegungen“ (wie es im Programmheft heißt) zur Musik und Stimme von Tom Waits zu provozieren vermögen. Forsythes „Approximate Sonata“ arbeitet mit klassischen Bewegungen (und der hinreißenden Renata Peraso), um das Neue im Alten zu entdecken. Alexander Ekmans „Tuplet“ bewegt sich mit Tanz, Beat Boxen und Silhoettenkörpern durch die Welt des Rhythmus, und Christian Spucks „Das siebte Blau“ entbindet zum Scherzosatz aus Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ die Bewegung von Mann und Frau als Gruppenritual, bevor sich die Compagnie in Ohad Naharins „Minus 16“ in den Stuhlkreis setzt, in  dem eine Figur – die Hutlose – permanent und sehr elegant zu Boden gleitet . Bei Nacho Duato in „Duende“, treffen Debussys zwei Tänze für Harfe und Streichorchester auf die Elastizität dreier Körper, Bigonzetti lässt in „Cantata“, mit der Musik der Gruppe „Assurd“, wieder ein fröhliches südeuropäisches Fest feien, bevor Mats Ek in „A sort of…“ Henryk M. Góreckis neoromantische Musik mit den Begegnungen zwischen Mann und Frau konfrontiert, die „manchmal tiefkomisch, dazu liebenswert und schräg sind“.

Goyo Montero / © Staatstheater Nürnberg / Jesús Vallinas

Wie gesagt: Ein bunter Abend, der von Monteros ernsten Meditationen und Reflexionen akzentuiert und von den verschiedenen Ansichten des Tanztheaters aufgelockert wird. Riesenbeifall also für eine inzwischen auf 24 Tänzer und Tänzerinnen angewachsene Compagnie, die sich für dieses Projekt in kurzer Zeit die verschiedensten Stile aneignete – weil sie es souverän vermag. Wollte man das Gemeinsame dieser Arbeiten charakterisieren, so wäre es der unausschöpfliche Variationsreichtum, der sich zumal aus den Begegnungen der Tänzer und Tänzerinnen ergibt; pathetisch ausgedrückt: die choreographierte Conditio Humana.

Also doch wesentlich mehr als ein Gemischtwarenladen und eine beeindruckende Nürnberger Retrospektive.

Frank Piontek, 19. Juli 2023


Boîte-en-valise

Choreographien von Goyo Montero, Mauro Bigonzetti, Nacho Duato u.a.

Musik von Tom Waits, Franz Schubert, Claude Debussy u.a.

Premiere am 13. Juli 2023

Besuchte Aufführung: 14. Juli 2023