Wiesbaden: „Carmen“ (zweite Besprechung)

Lieber Opernfreund-Freund,

derzeit zeigt das Hessische Staatstheater Wiesbaden die beeindruckende Carmen-Inszenierung von Hauschef Uwe Eric Laufenberg. Dabei bringt das exzeptionelle Dirigat von Yoel Gamzou am vergangenen Sonntag den Saal zum Toben.

Auf dem Bild Lena Belkina, Sébastien Guèze, Philipp Mayer, Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden / Foto: Karl und Monika Forster

Carmen ist bei Laufenberg nicht die männermordende femme fatale, die ihre Verehrer in den Abgrund zieht. Sie ist eine Kämpferin für die Freiheit, für die ihrer Gang, aber auch und vor allem für ihre eigene. Sie ist in einem an sich von Machos dominierten Teil der Gesellschaft nicht nur zierendes Beiwerk, das Freund wie Feind bezirzt, sondern hat sich dort trotz aller Gefahren gewissermaßen als Managerin etabliert. Vielleicht deshalb zeigt Gérard Naziri in seinem Video, das die Ouvertüre bebildert, eine Frau in einer Männerdomäne: in verschiedenen Szenen voller brutaler Nahaufnahmen zelebriert eine Torera das blutige Spektakel Stierkampf. Und wie sie reizt, Carmen Don José mit ihrer Weigerung, bei ihm zu bleiben – und bezahlt diese Willensstärke schließlich mit dem Leben. Laufenberg zeichnet Don José von Beginn an als Soziopathen: erst krankhaft pflichtbeflissener Außenseiter in seiner Kompanie, dann wahnsinniger Stalker, der die Geliebte, die ihn verlassen hat, lieber ermordet, als sie freizugeben. Diese Szene inszeniert Uwe Eric Laufenberg dann auch als Stierkampf, Carmen und die eingangs gezeigte Torera ähneln sich wie Zwillinge, angefangen von den Bewegungen und Gesten bis hin zur Garderobe (Kostüme: Antje Sternberg und Louise Buffetrille).

Auf dem Bild Lena Belkina, Sébastien Guèze / Foto: Karl und Monika Forster

Auf die Drehbühne im Stierkampfarenarund postiert Gisbert Jäkel immer wieder eine meterhohe Mauer. Die ermöglicht dem Regisseur nicht nur wunderbare Auftritte und Abgänge von Protagonisten, sondern ist gleichermaßen Grenze zwischen Carmens Halbwelt und der Zivilgesellschaft. Gekonnte Personenführung sorgt für Action auf der Bühne und auch die Sängerschar begeistert michAaren Cawley ist ein Don José der Spitzenklasse mit bombensicheren und strahlenden Höhen und legt doch in der Blumenarie eine unglaubliche Zärtlichkeit in seine Stimme, Heather Engebretsons Micaëla betört durch feinste Piani und zarte Zwischentöne. Und doch ist die chinesisch-amerikanische Sopranistin eine vergleichsweise kämpferische Version ihrer Figur und zu überraschenden Ausbrüchen fähig. Jordan Shanahan ist ein eher braver Escamillo und zeigt in den beiden Arien seinen kultivierten Bariton – das hätte ich mir ein wenig draufgängerischer gewünscht. Keine Wünsche offen lässt hingegen Silvia Hauer in der Titelpartie: mit sattem Mezzo singt sie die weltbekannten Melodien mit großer Lässigkeit und Nonchalance, präsentiert einen bunten Strauß an Facetten und lotet so die Vielschichtigkeit ihrer Figur perfekt aus.

Auf dem Bild Sébastien Guèze, Sumi Hwang / Foto: Karl und Monika Forster

Im Ohr bleiben auch Mercédès und Frasquita, die von Sarah Mehnert und Stella An stimmlich wie darstellerisch eindrucksvoll interpretiert werden. Beim von Albert Horne betreuten Chor begeistern mich vor allem die Herren mit nuanciertem Gesang, während die jungen Damen der Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie Wiesbaden unter der Leitung von Niklas Sikner perfekt ergänzen.

Im Graben tut sich Großes am vergangenen Sonntag: dass man eine so oft gehörte Partitur so frisch präsentieren kann, als würde sie zum ersten Mal erklingen, ist selten. Dem israelisch-amerikanischen Dirigenten Yoel Gamzou gelingt dieses Kunststück; gerade noch gibt er sich zusammen mit den Musikerinnen und Musikern des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden gefühlvoll aufgeladenem Adagio hin, um im nächsten Moment einem Vulkanausbruch gleich ins Prestissimo zu wechseln. Er ändert Tempi, Farben, Lautstärke innerhalb eines Wimpernschlages und präsentiert so eine wahrlich neue Carmen, die selbst routinierte Operngänger überrascht. Dass er dabei das eine oder andere Mal das Sängerpersonal verliert, ist schade, aber angesichts der glanzvollen neuen Eindrücke eines bekannten und oft allzu abgespielt präsentierten Werkes zu verzeihen. Am Ende dankt ihm das fast ausverkaufte Haus mit stehenden Ovationen, hat er doch die glühende Hitze dieses Juniabends musikalisch ins Theater gebracht.

Auch wenn die Carmen gefühlt an jedem zweiten Theater im Repertoire gespielt wird, lohnt DIESE, lieber Opernfreund-Freund, in jedem Fall den Weg nach Wiesbaden.

Ihr Jochen Rüth, 21. Juni 2023


Carmen

Georges Bizet

Wiesbaden

Premiere: 14. September 2019

Wiederaufnahme: 3. Juni 2023

Besuchte Vorstellung: 18. Juni 2023

Inszenierung: Uwe Eric Laufenberg

Musikalische Leitung: Yoel Gamzou

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Weitere Vorstellungen: 25. und 30. Juni, 4. und 9. Juli