Wiesbaden: „Der Barbier von Sevilla“, Gioacchino Rossini

Es ist einer dieser Abende, von denen man wenig erwartet hatte und dann beschwingt und restlos begeistert das Theater verläßt. Schon wieder Rossinis Barbiere und dann auch noch mit „Klappmaulpuppen“! Und so sitzt man mit verschränkten Armen und einer gehörigen Portion Skepsis im ausverkauften Saal. Der Orchestergraben ist abgedeckt und erweitert die Spielfläche in den Zuschauerraum hinein. Was sie dadurch an Raum gewonnen haben, geben sie zugleich wieder dadurch preis, daß das Orchester nun auf der Bühne Platz nehmen muß und dort links mindestens ein Viertel der Fläche einnimmt. Auf der rechten Seite reckt sich ein zunächst mit Stoff verhüllter Turm in die Höhe, dessen Inneres sich im Laufe der Vorstellung als Wendeltreppe offenbart. Sonst gibt es keine Kulissen, nur wenige Requisiten. Das Orchester ist einerseits reduziert: Die Streicher sind solistisch besetzt. Andererseits ist es angereichert unter anderem mit Akkordeon und Kastagnetten. Die von Albert Horne schwungvoll dirigierte Ouvertüre offenbart Unwuchten zwischen dünnem Streicher- und vollem Bläserklang.

Von links: Young Doo Park (Basilio), Angelo Konzett (Puppenspieler), Joshua Sanders (Almaviva), Jack Lee (Figaro), Max Konrad (Puppenspieler), Hovhannes Karapetyan (Bartolo), Camille Sherman (Rosina), Inna Fedorii (Berta)
© Maximilian Borchardt

Dann füllt sich die Bühne mit Sängern des Chores. Denise Heschl hat sie wie auch die übrigen Mitwirkenden im Stile der Entstehungszeit in schlichtes Schwarz gekleidet, mit Kniebundhosen und Schnallenschuhen. Sie spielen ein wenig Theater auf dem Theater und bauen ein paar Pannen ein: Da paßt das Kabel eines Scheinwerfers (angeblich) nicht zur Verlängerungsschnur, und Joshua Sanders, der den Grafen Almaviva gibt, tut in seiner Auftrittsarie so, als würde er mehrfach zu früh einsetzen. Dann ereignet sich die erste Überraschung: Der junge Sänger verfügt über eine ideale Rossini-Stimme: angenehmes Timbre, guter Stimmsitz in der Mittellage, vor allem gute Registerverblendung und bruchloses Gleiten in die Kopfstimme. Unangestrengt serviert er Verzierungen und Koloraturen, die Höhe ist ungefährdet und klar. Ein Tenore di grazia wie man ihn selten erlebt. Im Nachgang liest man auf der Homepage des Staatstheaters, daß er festes Ensemblemitglied in Wiesbaden ist, klickt weiter durch die Besetzungsliste und stellt überrascht fest, daß sämtliche Solisten des Abends aus dem hauseigenen Ensemble stammen. Das ist deswegen so überraschend, weil man auch mit Gastsängern keine stimmigere Besetzung hätte zusammenstellen können. Da gibt es keinerlei Kompromisse. Jack Lee ist ein Figaro mit kraftvoll-saftigem Bariton und rockt gleich schon mit der Auftrittsarie „Largo al factotum“ die Bühne. Camille Shermann ist mit hellem Mezzosopran eine fabelhafte Rosina, auch sie mit stupenden Belcanto-Qualitäten. Besonders erfreulich ist, daß selbst die Buffo-Partien mit Sängern besetzt sind, die stimmlich in vollem Saft stehen und technisch keinerlei Kompromisse machen müssen. Daß Hovhannes Karapetyan sich mit seinem kernigen Bariton als Doktor Bartolo für einen passabelen Bräutigam hält, kann man zumindest musikalisch nachvollziehen. Inna Fedorii ist stimmlich als Haushälterin Berta keineswegs eine alte Jungfer, sondern wäre durchaus auch als Rosina denkbar. Sie läßt es sich nicht nehmen, in der einzigen ihr vergönnten Arie „Il vecchiotto cerca moglie“ darauf hinzuweisen, daß sie es an Geläufigkeit und Kunstfertigkeit mit dem restlichen Ensemble aufnehmen kann. Und endlich einmal bekommt man den Basilio musikalisch nicht als Karikatur vorgeführt. Young Doo Park verleiht der Figur mit seinem sonoren Baß abgrundtiefe Schwärze und zeigt dabei, daß die Einsätze im schwereren dramatischen Fach der letzten Jahre (im Januar war er noch als Daland im Fliegenden Holländer eingesetzt), nicht auf Kosten der Agilität gegangen sind.

Inna Fedorii, Max Konrad, Jack Lee
© Maximilian Borchardt

Daß dieses großartige Belcanto-Ensemble musikalisch nichts karikieren muß, liegt auch daran, daß mit den Klappmaulpuppen von Nikolaus Habjan leibhaftige Karikaturen auf der Bühne agieren. Das muß man nicht noch musikalisch verdoppeln. Jedem Sänger ist eine lebensgroße Puppe zugeordnet. Diese enden oberhalb der Gürtellinie, so daß die menschlichen Darsteller ihnen quasi ihre Beine leihen. Dadurch verschmelzen Sänger und Figuren. Schon bald stellt sich die Illusion ein, der Gesang töne aus den lippensynchron bewegten Klappmäulern. Dabei ist es erstaunlich, wie abwechslungsreich Habjan in seiner Regie das Potential der Puppen nutzt. Drei stumme Puppenspieler assistieren den Sängern. So können die Puppen miteinander, aber auch immer wieder mit und sogar gegen den eigenen Sängerdarsteller agieren. Das ist ein erfrischendes, äußerst kurzweiliges Vergnügen, das auch immer wieder lustvoll die Grenze zum Klamauk überschreitet. Man staunt, wie geschickt die Sänger ihre Figuren führen, während sie virtuoseste Belcanto-Kunststücke zu singen haben.

Die Präsenz des Orchesters auf der Bühne wird genutzt, um auch mit den Musikern und ihrem Leiter Albert Horne zu interagieren, welcher zudem mit phantasievoller Begleitung der Rezitative auf einem elektronisch dezent verstärkten Hammerklavier die Bravournummern verbindet und gelegentlich gewitzte Anspielungen platziert, von Mozarts Figaro bis zu Star Wars. Bei der Begleitung der Arien irritiert dann die reduzierte Streicherbesetzung kaum noch, kommen dafür die Qualitäten der farbig aufspielenden Holzbläser umso besser zur Geltung.

Das Staatstheater Wiesbaden preist diese vom Theater Basel übernommene und von Philomena Grütter mit einem spielfreudigen Ensemble perfekt auf die Wiesbadener Bühnenverhältnisse übertragene Produktion an als „eine Komödie für Familien ebenso wie für einen guten Abend unter Freunden“. Damit wird nicht zu viel versprochen. Erwachsene wie Kinder (empfohlen wird der Abend für das Mindestalter „8 +“) kommen gleichermaßen auf ihre Kosten. Nach den beiden hinreißend gelungenen Musikkomödien an der Oper Frankfurt (Le postillon de Lonjumeau und Doktor und Apotheker) zeigt auch dieser Abend beim kleineren Nachbarn in Wiesbaden die Vitalität und Publikumswirksamkeit der vermeintlich leichten Muse, ganz ohne krampfhafte Aktualisierungen oder das Aufpfropfen politischer Botschaften.

Michael Demel, 11. April 2025


Der Barbier von Sevilla (Il barbiere di Siviglia)
Opera buffa in zwei Akten von Gioacchino Rossini

Staatstheater Wiesbaden

Besuchte Aufführung am 6. April 2025
Premiere am 30. März 2025

Inszenierung: Nikolaus Habjan
Musikalische Leitung: Albert Horne
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Weitere Vorstellungen: 13. und 30. April, 5. und 18. Juni sowie 6. Juli

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