„Kommt mir bekannt vor“, sagt der Premierengast zu meiner Linken. So wie hier hätten Regisseur und Bühnenbildner seinerzeit bereits ihren Rosenkavalier an der Berliner Staatsoper ausgestattet. In der Pause findet er auch Beweisphotos dazu – das Internet vergißt nichts. Tatsächlich zeigen die Bilder aus Berlin eine sehr ähnliche Rotunde, einen eineiigen Zwilling des Wiesbadener Bettes im ersten Akt und auch einen unmittelbaren Modellvorgänger der vergoldeten Globus-Minibar im zweiten Akt. Warum auch nicht? Man muß das Rad nicht immer neu erfinden, insbesondere nicht, wenn es optisch so wirkungsvoll ist wie dieses Bühnenbild von Raimund Bauer. Die klassizistische Rotunde, deren Säulen im ersten Akt hinter zugezogenen, bodenlangen Gardinen durchscheinen, bietet einen noblen, etwas unterkühlt wirkenden Rahmen für die lebendige und plausible Personenregie, mit der Nicolas Brieger ein darstellerisch sehr engagiertes Ensemble zu führen weiß. Leider zeigt sich aber immer wieder, daß das Rund des Bühnenbildes mit seinem gewölbten Schalldeckel akustisch offenbar ungünstig ist: Je nach Positionierung dringen Stimmen nur gedämpft über den Orchestergraben. Ohne Übertitelanlage wäre manche Textpassage unverständlich geblieben.
Liebesspiel zur Ouvertüre: Nicola Beller Carbon (Marschallin in Rot) mit Silvia Hauer (Octavian)
Mitunter neigt die Regie zur Deutlichkeit. Schon zu Beginn ist auf offener Bühne das Liebesspiel zwischen der Marschallin und ihrem jugendlichen Liebhaber zu sehen, als ob die Musik es inklusive Koitus nicht schon überdeutlich genug ausmalte. Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer verorten die Szene im frühen 20. Jahrhundert, zitieren aber in verfremdeter Form etwa bei Octavian das behauptete Rokoko des Librettos. Die Berliner Ausgangsidee wurde in Wiesbaden im ersten Aufzug mit Videoeinblendungen angereichert, welche zu Strauss‘ nostalgisch schwelgenden Walzerklängen eine KuK-Hofgesellschaft beim Tanz zeigen, die Damen in üppigen Roben, die Herren in Ausgehuniformen. Die Produktion nimmt damit Bezug auf die Entstehungszeit der Oper unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und zeigt die Oberschicht der zum Untergang verdammten Donaumonarchie. Sie tanzen ihren Walzer am Abgrund, schlafwandeln im Drei-Viertel-Takt in die Katastrophe hinein. Schlagartig blitzt das kommende Unheil auf, zeigen die Videoprojektionen Weltkriegsszenen mit Schützengräben und Bombeneinschlägen. Vor diesem Hintergrund bekommt dann der Auftritt der Bittsteller vor der Marschallin eine ernste, bittere Note. Die Regie muß dazu gar nicht viel verändern. Wenn drei Waisen etwa den Soldatentod des Vaters beklagen, dann steht das genau so in Hoffmannsthals Textvorlage. Lediglich den italienischen Tenor, der auf eine Anstellung hofft, hat man hier in einen Kriegsversehrten umgedeutet. So muß Ioan Hotea das Kunststück vollbringen, die ohnehin unbequem hoch notierte Partie einbeinig und auf eine Krücke gestützt zu singen. Das gelingt ihm mit seiner saftigen Stimme erstaunlich gut.
Im Hintergrund: Baron Ochs mit Gefolge, vorne rechts: Silvia Hauer (Oktavian) im Palais Faninal
Im weiteren Verlauf wird auf diese ernste weltpolitische Brechung des Stoffes jedoch kaum noch Bezug genommen. Lediglich ein vergoldeter Weltkriegspanzer, der im zweiten Akt Faninals Stadtpalais zur Dekoration dient, macht deutlich, auf welche Weise dieser neureiche Emporkömmling wohl zu seinem Vermögen gekommen ist.
Die „Wienerische Maskerade“ im dritten Akt spielt statt im Beisl in einer Art gehobener Rotlichtbar, deren Wirt (Erik Biegel mit gewohnt kopfigem Spieltenor) eine Transe ist. Das tut aber nichts zur Sache. Das Produktionsteam brennt hier ein kleines Feuerwerk an Gags und Bühneneffekten ab, die dem Publikum hörbar großes Vergnügen bereiten.
Fleuranne Brockway (Annina), Erik Biegel (Wirt), Rouwen Huther (Valzacchi) und Benjamin Russel (Polizeikommissar) im Beisl
Kleine Details zeigen einen souveränen Umgang mit den Aufführungstraditionen. Die stumme Rolle des Dieners Mohammed ist hier mit einem kleinwüchsigen Schauspieler (Mick Morris Mehnert) besetzt, der mimisch und gestisch sehr präsent ist und zur Belebung vieler Szenen beiträgt. Eine augenzwinkernde Erinnerung daran, daß das Libretto für diese Rolle einen Farbigen, einen „Mohren“ vorgesehen hat, entdeckt man an einem Servierwagen, dessen Tablett von der Figur eines orientalisch bekleideten Mohren gehalten wird. Die Regie imprägniert sich hier gegen wohlfeile Rassismuskritik, ohne der Textvorlage untreu zu werden.
Im Übrigen entfaltet Nicolas Brieger unaufgeregt, aber eindringlich das Grundthema des Stückes: Zeit, Altern, Vergänglichkeit.
Nicola Beller Carbone als Marschallin bietet mit einer Haltung nobler Melancholie das glaubhafte Porträt einer bereits gereiften Frau, die sich des Endes ihrer Jugend zunächst fassungslos bewußt wird, um schließlich den Gang der Zeit mit Würde anzunehmen. Sie überrascht dabei mit großer stimmlicher Zurückhaltung. Ihre gute Textgestaltung überzeugt, klanglich jedoch wirkt sie nahezu im gesamten ersten Aufzug so, als sänge sie gleichsam mit angezogener Handbremse. Da versucht eine Sängerin, ihr im hochdramatischen Fach erprobtes Material im Zaum zu halten.
Das funktioniert vor allem in den Konversationspassagen recht gut. Hier webt Beller Carbone ein recht feines Gespinst, welches für eine Sängerin verblüfft, die in Wiesbaden bereits als kraftvolle Färberin in Die Frau ohne Schatten aufgetreten ist. Ein wenig vermißt man die Fähigkeit zum blühenden, weite Bögen spannenden Ton großer Rollenvorgängerinnen. Das etwas herbere Timbre der Beller Carbone fügt sich indes mit ihrer darstellerischen Anlage der Figur gut zu einem stimmigen Gesamtbild.
Silvia Hauer ist dagegen ein Octavian wie aus dem Bilderbuch: Ein frischer Mezzosopran mit überschäumendem Temperament, glaubhaft als viriler jugendlicher Liebhaber, köstlich ungelenk in der Verkleidung als Kammerzofe. Sie und die fabelhafte Sophie der Aleksandra Olczyk, die mit ihrem glockenhellen Sopran überzeugt, geben ein großartiges Paar ab.
Karl-Heinz Lehner ist landauf landab der Ochs vom Dienst (Dortmund, Essen, Frankfurt, Leipzig). Der gebürtige Österreicher verfügt über die nötige Dialektfärbung – wobei man als Nicht-Österreicher ohnehin bereits das Austauschen von Vokalen für Wienerisch („Weanerisch“) hält. Musikalisch kann man ihn lediglich als eine solide Besetzung bezeichnen, vermißt man doch insbesondere eine sattere Tiefe und eine unangestrengtere Höhe.
Karl-Heinz Lehner als Ochs mit Gefolge
Das Orchester zeigt sich unter der Leitung seines Generalmusikdirektors Patrick Lange in guter Form. Wie schon bei Langes Arabella-Dirigat klingt dieser Strauss eher bayerisch-deftig als wienerisch-parfümiert, was vor allem die Auftritte des Ochs und seiner Dienerschaft gut untermalt. Die Walzer tönen mit vollmundigem Streicherklang aus dem Orchestergraben und machen Laune. Aber auch für Momente des Innehaltens finden die Wiesbadener Musiker zu einer überzeugenden Musizierhaltung. Im wichtigen Zeitmonolog der Marschallin bricht der Spannungsbogen nicht ab. Sogar die heiklen Silber-Rosen-Klänge gelingen. Die Anerkennung des Publikums für diese Leistung im Schlußapplaus ist wohlverdient.
Insgesamt kann man den Rosenkavalier in Wiesbaden in einer reflektierten Inszenierung erleben, die im Detail gut ausgearbeitet ist und die von engagierten Darstellern getragen wird. Das musikalische Niveau ist gediegen. Diese repertoiretaugliche Produktion ist die ideale Plattform für wechselnde Besetzungen in den tragenden Partien. Schon in dieser Spielzeit wird die wunderbare Johanni van Oostrum für zwei Vorstellungen im April die Marschallin übernehmen. Im Rahmen der Maifestspiele soll dann die absagefreudige Anja Harteros in dieser Rolle zu erleben sein.
Michael Demel, 29.11.2019
© der Bilder: Karl und Monika Forster