Premiere am 20. März 2022
Zwischen formaler Strenge und politischer Agitation
Die erste Frage bei einer Neuinszenierung von Verdis Don Carlo nach dem Drama von Friedrich Schiller ist: Welche Fassung wird gespielt? Ursprünglich in Paris 1867 als fünfaktige Grand opéra samt Balletteinlagen mit fünfstündiger Dauer herausgebracht, setzte sich zunächst für etwa ein Jahrhundert die gekürzte Mailänder Fassung von 1884 auf internationalen Bühnen durch. Bei ihr entfallen der komplette erste Akt und das Ballett, zudem sind auch etliche Szenen in den übrigen Akten verkürzt. So kommt man auf eine reine Spieldauer von knapp drei Stunden. Für diese Fassung nun hat sich auch das Staatstheater Wiesbaden in der aktuellen Neuproduktion entschieden. Ist man an die fünfaktige Fassung gewöhnt, so fühlt man sich an jene Opernquerschnitte auf Schallplatte erinnert, die sich im vergangenen Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten: Eine schöne Stelle folgt auf die nächste, den Zusammenhang muß man sich jedoch erschließen oder vorher angelesen haben. In Wiesbaden hilft mitunter auch die Übertitelanlage nach. In der Ursprungsfassung erzählt der erste Akt davon, wie der spanische Thronfolger Don Carlos der französischen Prinzessin Elisabeth im Wald von Fontainebleau begegnet, beide sich ineinander verlieben, was sich gut trifft, denn sie wurden bereits ohne ihr Zutun von ihren Herrscherhäusern einander versprochen. Dann jedoch muß Elisabeth aus Staatsräson Carlos‘ Vater, König Philipp, heiraten. Im zweiten Akt dann gesteht Carlos seinem Freund Posa, daß er noch immer Elisabeth liebe, die er entsprechend ihrer Stellung als Ehefrau seines Vaters als seine „Mutter“ bezeichnet. Die in Wiesbaden verwendete gekürzte Fassung setzt nun genau mit diesem zweiten Akt ein. Die Vorgeschichte wird also nicht erläutert. Wenn Carlos nun erklärt, er liebe seine Mutter, könnte der unbedarfte Zuhörer an einen Ödipus-Komplex denken. Die Übertitelanlage beugt der Verwirrung vor und übersetzt „Madre“ hier mit „Stiefmutter“.
Durch den Wegfall der Vorgeschichte, aber auch verbindender Handlungselemente hat die gekürzte Fassung etwas Tableaux-Artiges: In dramatisch verdichteten Szenen werden Schlaglichter auf Schlüsselmomente geworfen. Das von Rolf Glittenberg verantwortete Einheitsbühnenbild nimmt das adäquat auf: Die vordere Hälfte der Bühne wird von einer strengen, nach hinten offenen schwarzen Holzummantelung bestimmt, in der hinteren Hälfte werden passend zur jeweiligen Szene die wechselnden Orte des Geschehens mit wenigen Requisiten markiert: Ein bühnenhohes Kreuz steht für das Kloster, goldgrundierte Gartenbänke für den Innenhof des Escorial, Lampions für einen nächtlichen Garten. Die Kostüme von Marianne Glittenberg nehmen eine unaufdringliche Aktualisierung vor, zeigen überwiegend strenges Schwarz, vor dem sich gezielte Farbakzente in den elegant geschnittenen Kleidern und Roben der weiblichen Protagonisten wirkungsvoll abheben.
Diese formale Strenge nimmt auch der inszenierende Intendant Uwe Eric Laufenberg zu Beginn auf, indem er immer wieder symmetrische Aufstellungen der handelnden Personen bevorzugt und etwa in der ersten gemeinsamen Szene von Carlos und Posa die beiden Freunde gleichsam ritualisierte Aktionen spiegelbildlich ausführen läßt. Dieses Inszenierungselement wird jedoch schnell zugunsten einer flüssigen Personenregie aufgegeben, welche unprätentiös und werkdienlich die Handlung abbildet. Ein weiteres zu Beginn eingeführtes Regieelement zieht sich jedoch als roter Faden durch die gesamte Inszenierung: Der eigentlich nur zu Beginn und zum Ende auftretende Mönch, bei dem es sich im Libretto um den Geist Kaiser Karls V. handelt, spukt als stumme Rolle (dargestellt vom Tänzer Gabriele Ascani) durch den gesamten Abend. Immer wieder wird er durch deutlich sichtbare Wundmale mit dem gekreuzigten Christus identifiziert und weist so auf den Mißbrauch der Religion durch den Großinquisitor hin. An anderen Stellen wirkt das Auftreten des stummen Mönches weniger eindeutig in seiner Symbolkraft. In der Schlafzimmerszene von König Philipp erweist er sich gar als Vexierbild. Wie nebenbei entdeckt man im zerwühlten Bett des Königs eine schlafende Gestalt, deren Nacktheit samt wallend gelocktem Haar unter der Bettdecke hervorlugt. Eine schlafende Schöne, mit welcher der König die Nacht verbracht hat, denkt man.
Irgendwann erhebt sich die Gestalt, in deren schlanken Formen man eine Frau hatte sehen wollen, und erweist sich, durch die Seitenwunde eindeutig gekennzeichnet, als die Christusfigur, welche sich den Mönchshabit überstreift, um den blinden Großinquisitor hereinzuführen. Diese Szene läßt eine ganze Bandbreite von Deutungen zu und steht im Kontrast zu der plakativen Eindeutigkeit, mit der Laufenberg das Publikum in der Autodafé-Szene in die Pause geschickt hatte. Hier hat er der Versuchung nicht widerstehen können, die flandrische Opposition gegen die spanische Herrschaft und die Hinrichtung von Ketzern mit allzu wohlfeiler Aktualisierung zu übermalen. Die flandrischen Deputierten führen die rot-weiße Fahne der belarussischen Opposition mit sich. Als zu verbrennende Ketzer werden Bilder osteuropäischer Oppositioneller vom in Rußland inhaftierten Alexander Nawalny über den von Belarus entführten Roman Protassewitsch bis zur ermordeten Kremlkritikerin Anna Politkowskaja gezeigt.
Die Hinrichtungsszene hatte mit dem Einzug eines lebensgroßen Prozessionsbildes vom Kreuzweg Christi mit Dornenkrone begonnen. Die Bilder der Dissidenten werden jedoch wider Erwarten nicht verbrannt, sondern auf dem Boden ausgebreitet. Der gemarterte Christus aus dem Prozessionsbild legt sich schließlich auf sie, bevor der Vorhang fällt. Diese religiöse Überhöhung von politischer Verfolgung muß man nicht schlüssig finden. Insgesamt nimmt man den Eindruck mit, daß hier zwei Inszenierungsideen miteinander gerungen haben: Die Herausarbeitung des überzeitlich Gültigen aus dem Geist von Schillers Tragödie, welche auch durch Einblendungen von markanten Zitaten auf Zwischenvorhängen präsent ist, und eine plakative Aktualisierung. Uns hat die ritualisierte Strenge des Beginns stärker überzeugt und im Folgenden die Inszenierung immer da gepackt, wo Laufenberg dem Text vertraut hat. Aber angesichts der aktuellen Weltlage mag man die Parteinahme für die Unterdrückten der Gegenwart dem Produktionsteam nicht verübeln. Allerdings werden diese Teile der Inszenierung schnell altern.
Die musikalische Bilanz fällt gemischt aus. Unter der Leitung von Antonello Allemandi spielt das Orchester deftig auf, vieles wird mit breitem Pinsel gemalt. In der Autodafé-Szene erinnert das Fernorchester in seinem unbekümmerten Drauflosmusizieren mit manchen Unsauberkeiten in Intonation und Metrum an eine italienische Dorfblaskapelle (was womöglich sogar den Intentionen des Komponisten nahekommt). Oft tönt es recht laut aus dem Orchestergraben. Das bestimmt auch gerade bei den männlichen Protagonisten die Grundhaltung: Rodrigo Porras Garulo neigt in der Titelrolle zum Forcieren, zeigt mehr als einmal Unsauberkeiten in der Höhe und kann sich gegen das Orchester mitunter nur durch mit letzter Kraft nahe dem Schreien herausgestellten Töne behaupten. Aluda Todua erweist sich als Posa intonationssicherer, erringt aber manche Höhe auch nur mit Druck, was zu uneinheitlichen Lautstärken zwischen den Stimmregistern führt. Ausgeglichener präsentiert sich Timo Riihonen in der Partie des Königs Philipp. Sein dunkler Baßbariton beglaubigt den kühlen Machtmenschen, kann aber auch in der berühmten Arie „Sie hat mich nie geliebt“ mit differenzierter Gestaltung überzeugen und erhält dafür zu Recht starken Szenenapplaus. Young Doo Park kann als Großinquisitor sein prächtiges Baßmaterial voll ausspielen.
Christina Pasaroiu bietet mit ihrem tadellos durchgeformten Sopran als Elisabetta mit differenzierter Gestaltung den denkbar größten Kontrast zu der auftrumpfenden Virilität der männlichen Protagonisten. Dabei gibt sie die zwangsverheiratete Königin nicht nur optisch als Doppelgängerin von Melania Trump: Eine attraktive junge Frau, die sichtlich angewidert vom plump-brutalen Gatten ist. Ihm gegenüber läßt die Pasaroiu ihre Stimme geradezu unterkühlt klingen. Auch gegenüber dem von seinen Emotionen getriebenen Carlos zeigt sie rollengemäß allenfalls eingehegte Gefühle. In ihrem mitreißenden Schlußauftritt schließlich kann sie auch die leidenschaftliche Seite ihrer Figur musikalisch beglaubigen. Dies ist das in jeder Hinsicht überzeugendste Einzelporträt des Abends.
Demgegenüber bietet Alessandra Volpe als Eboli eine lediglich solide Leistung. Die beiden Wunschkonzertnummern ihrer Partie bewältigt sie achtbar, aber nicht bemerkenswert: Für das Schleierlied fehlt es ihr am letzten Quäntchen Geläufigkeit für die arabesken Koloraturen (über die sich allerdings auch schon bedeutende Rollenvertreterinnen hinweggemogelt haben), für die große Selbstabrechnung „O don fatale“ an innerer Glut.
Der Chor wird am Ende weniger für seinen tadellosen Einsatz in der Oper als für den Vortrag eines ukrainischen Liedes im Schlußapplaus gefeiert. Im Übrigen zeigt das Publikum sich mit Regie und Musik zufrieden. Die Heftigkeit im Einzelapplaus entspricht der jeweiligen Durchschnittslautstärke der Sänger, so daß etwa Aluda Todua für seinen phonstarken Posa scheinbar größere Zustimmung erfährt als Christina Pasaroiu für ihre besser abgestufte Elisabeth.
26. März 2022 / Michael Demel
© der Bilder: Karl und Monika Forster