Bern: „Salome“

Premiere am 17.01.2015

Das Abstoßende im Menschen hervorgehoben

Lange, sehr lange hat sich Richard Strauss Zeit gelassen, bevor er sich in seinem Schaffen dem Musiktheater zugewandt hat. Mit seinen sinfonischen Dichtungen (u.a. Don Juan, Till Eulenspiegel, Also sprach Zarathustra) hat er sich das Handwerk des genialen Instrumentationskünstlers angeeignet, die farblichen Möglichkeiten des grossen Orchesters wie kaum ein zweiter ausgelotet und zur Perfektion getrieben. Nach zwei eher erfolglosen Versuchen im Bereich des Musikdramas (GUNTRAM, FEUERSNOT) fand er im Alter von beinahe 40 Jahren in Oscar Wildes SALOME endlich den Stoff für sein bahnbrechendes Werk. SALOME kann man als erste deutsche Literaturoper bezeichnen, die aristotelische Einheit des Dramas (Zeit, Ort, Handlung) ist in geradezu exemplarischer Weise gewahrt. Die Figur der femme fatale (und der entsprechenden Männerphantasien …), welche in ihrem selbstbestimmten sexuellen Begehren auch immer den Tod als Ziel in sich trägt, hatte bereits andere Werke des ausgehenden 19. und beginnenden 20 Jahrhunderts beeinflusst (Delila, Thaïs, Carmen – später Lulu).

Die Komposition wurde von den bedeutendsten Zeitgenossen (Puccini, Mahler, Berg, Schönberg) als wichtigstes Ereignis im Bereich der Oper seit Wagners TRISTAN UND ISOLDE bezeichnet. Strauss schrieb eine packende, erotisch schwülstige und trotz ihrer Komplexität die Grenzen der Tonalität kaum verlassende Musik. Auch der riesige Orchesterapparat wurde von ihm mit grandioser Raffinesse eingesetzt. Nur in ganz wenigen, dramatisch zugespitzten Momenten entlädt sich die volle Wucht des Orchesters. Ansonsten herrscht ein ausgeklügelter Parlandostil vor, gespickt mit ariosen Aufschwüngen, untermalt von einem – in idealen Interpretationen – farblich fein abgestuften, transparenten und ungemein sinnlichen Orchesterklang, einem kunstvollen Stimmengeflecht.

Die Titelrolle gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben für Sopranistinnen im lyrisch-dramatischen Fach. Obwohl Salome oft mit hochdramatischen Sopranen besetzt wurde und wird (Nilsson, Borkh, Gwyneth Jones), liegt die Partie auch schlankeren Stimmen ausgezeichnet, da das Orchester die Sängerin eigentlich kaum zudecken sollte. Viele der besten Salomes waren eher lyrische Soprane (Welitsch, della Casa, Rysanek, Malfitano und vor allem Montserrat Caballé in der empfehlenswerten Einspielung unter Erich Leinsdorf).

„Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht …“ schmachtet Narraboth zu Beginn der Oper. Nun, die Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters – oder ist Narraboths Beschreibung der judäischen Prinzessin gar als purer Sarkasmus zu verstehen? Wie dem auch sei, von „Schönheit“ ist in dieser Neuproduktion von KonzertTheaterBern rein gar nichts zu sehen. In Kostümen, die an Hässlichkeit kaum mehr zu überbieten sind (Katrin Wittig) und in einem kalten Bühnenraum (Ric Schachtebeck), der die seelische Leere der Bewohner und ihrer Gäste spiegelt, stellt Regisseur Ludger Engels das konzentrierte Drama in grausig-intensiver Konsequenz auf die Bühne. Es gelingt dem Inszenierungsteam dabei vortrefflich, uns mit den psychischen Deformationen der Figuren in ihrer abscheulichen, perversen Ausgestaltung zu konfrontieren, die wahrlich unschönen Seiten menschlicher Abgründe, welche Oscar Wilde in seinem Text und Richard Strauss in seiner schlicht genialen Tonsprache sublimierten an die Oberfläche zu transportieren. Immer wieder deckt Ludger Engels dabei unerfüllte Sehnsüchte, Wünsche, verschüttete Emotionalität auf, welche die Personen aufgrund ihrer Verderbtheit, ihrer Neurosen und ihres Klammerns, ihres Ausgeliefertseins an Macht, Fanatismus und religiöse Doktrin nicht zuzulassen im Stande sind . Exemplarisch gelingt ihm dies in der Charakterzeichnung des gefangenen Propheten Jochanaan, der durch Salomes Begehren scheinbar erstmals mit seinen eigenen sexuellen Bedürfnissen konfrontiert wird und diese nicht akzeptieren kann und will, sich deshalb in widerlichste Selbstkasteiung flüchtet. Oder in den wenigen kurzen Momenten des Glücks zwischen Narraboth und Salome, wo die beiden sich wie verliebte Backfische Huckepack nehmen und endlich die Kindheit leben, welche wohl beide nie gehabt haben.

Salome ist ganz das Produkt ihrer Mutter Herodias, sie scheint ihr das Tanzen, das erotische Verführen, die Macht des weiblichen Körpers beigebracht zu haben – und dabei wirkt die Mutter jünger als die Tochter, denn Salome ist eine Kindfrau, ein Geschöpf, das nie Kind sein durfte und dem so wichtige entwicklungspsychologische Schritte schlicht vorenthalten wurden. Nur so ist die Abscheulichkeit ihres perversen Begehrens nach dem Kopf des Propheten erklärbar. Herodes wird als nervliches Wrack (manisches Zittern der Hände) gezeichnet, politisch unentschlossen, schwach, wohl auch impotent (und deshalb nach einem letzten verbotenen Kick, dem Sex mit der Stieftochter, suchend), vom Alkohol umnebelt. Bezwingend gelingt dem Regieteam auch die Charakterzeichnung der Nebenfiguren: Die beiden Soldaten (in schicken Anzügen von Bodyguards), einer als gläubiger Anhänger der neuen Religion, der andere durch und durch korrupt (Bestechung durch den neugierigen Kappadozier). Beide vortrefflich gesungen von Iyad Dwaier und Daniel Mauerhofer. Interessant und kontrovers auch die Zeichnung der fünf Juden (Andries Cloete, Michael Feyfar, Angel Petkov, Andrés Del Castillo und Nuno Dias singen die schwierigen Passagen sehr gut und bringen es fertig, nie keifend zu wirken!). Bei all diesen Religionsfanatikern, inklusive der beiden Nazarener (Kai Wegner, Wolfgang Resch), gelingt es Salome durch den sehr durchdacht, abgefeimt und die zarte musikalische Verästelung genau gestaltenden Tanz, die (auch homoerotischen) Bedürfnisse dieser Männer aufzudecken und für kurze Zeit unter einem riesigen Schleierzelt zuzulassen.

Die Salome sollte einerseits eine mädchenhafte, leichte und helle Farbe haben, andererseits aber auch über das grosse Orchester triumphieren können, ohne forciert zu wirken. Allison Oakes gelingt dies mit bewundernswerter Kondition, sie lässt bis zum schrecklich-schönen Schlussgesang keinerlei stimmliche Einbrüche oder gar Schonung zu. An einigen Stellen hätte die Gesangslinie durchaus noch etwas mehr an Differenzierung und dynamischer Abstufung ertragen können. Ihre Darstellung der allzu früh zum Erwachsenwerden gezwungenen Frau allerdings gelingt packend und unter die Haut gehend. Unvergesslich, wie sie trotzig schmollend auf ihrem Kinderstühlchen sitzt, dann wieder mit gespreizten Beinen Herodes unter ihre Hotpants schielen lässt. John Uhlenhopp gibt den schwachen Tetrarchen mit biegsamer, sehr gut fokussierter Stimme, verfällt nie in hysterischen Sprechgesang sondern lotet den Text intelligent aus. Claude Eichenberger verleiht der Herodias durch ihren satten, sicher und durchschlagkräftig eingesetzten Mezzosopran und ihr subtiles Spiel eine beeindruckende Präsenz. Grossartig, wie sie ihre Verbundenheit mit ihrer Tochter im Tanz zeigt, herrlich, wie sie sich während Herodes vergeblichen Umstimmungsversuchen zu Salomes Begehren die Klunker vom Hals reisst in der Erkenntnis, dass ihre Zeit wohl abgelaufen ist. Im letzten Moment, bevor dann alles aus ist, bemächtigt sie sich jedoch wieder ihres Schmuckes, denn man weiss ja nie, ob er nicht doch noch zu etwas nütze sein könnte … . Aris Argiris singt den Jochanaan in seiner Plexiglaszelle (akustisch nicht ganz unproblematisch) mit wohlklingendem Bariton, manchmal leicht kurzatmig und Phrasen nicht rund beendend. Packend ist jedoch sein Spiel, sein Aufbäumen gegen seine Bedürfnisse als Mann, das nicht Zulassen seiner eigenen Sexualität. Michael Feyfar ist ein wunderbar lyrischer Narraboth, welcher die schmachtenden Phrasen mit jugendlicher Emphase zum Klingen bringt. Nach seinem Selbstmord wird er auch noch als zweiter Jude eingesetzt. Dafür müssen ihn die Bodyguards in vorauseilendem Gehorsam von der Bühne fegen, bevor Herodes befiehlt „Fort mit ihm!“ … . Sophie Rennert weiss stimmlich als der besorgte und in Narraboth verliebte weibliche Page zu gefallen, welcher das Unheil von Anbeginn weg kommen sieht (Schreckliches wird geschehn).

Kevin John Edusei bringt mit dem Berner Symphonieorchester die schillernde Farbenpracht, das Oszillierende und unterschwellig erotisch aufgeladene der Partitur zum Blühen. Der Dirigent lässt den Sängern Zeit für auf grossem Atem durchgestaltete Phrasen, deckt sie nicht mit den Orchesterwogen zu und sorgt damit auch für eine gute Textverständlichkeit.

Fazit: SALOME wäre als kulinarisch üppig parfümierter Pseudo-Historienschocker wohl kaum zu ertragen. Diese psychologisch feinnervig durchdachte Regiearbeit von Ludger Engels bringt uns die Figuren näher – auch wenn wir sie hässlich und überaus abstossend finden. Weitere Aufführungen in Bern: 17.1. | 25.1. | 28.1. | 3.2. | 14.2. | 21.2. | 8.3. | 15.3.2015

Kaspar Sannemann, 17.01.2014 Fotos: Annette Boutellier

Originalbeitrag auf oper-aktuell