Premiere: 9.6. 2012, besuchte Aufführung: 17.4. 2019 (151. Aufführung set der Premiere)
Rouge et noir: Roter Schlüpfer, schwarze Rosen – ein interessanter Don Giovanni an der Moldau
Natürlich ist es etwas sehr Besonderes, den Don Giovanni im Haus der Uraufführung anzuschauen, auch wenn das Gebäude im Inneren und Äußeren während des 19. Jahrhunders wesentlich erhöht und im Stil der Neorenaissance umgestaltet wurde. Das einstige Gräflich Nostizsche Theater hat im Lauf der Jahrhunderte und Epochenumwälzungen nicht nur seinen Namen verändert. Heute darf das Ständetheater wieder Ständetheater bzw. Stavovské divadlo heißen. Wer wissen will, wie es dort im Jahre 1787 zuging, mag sich den genialen Film Amadeus anschauen, in dem der Held am Pult steht, um in genau diesem Haus die Aufführungen der Entführung, des Figaro und des Don Giovanni zu leiten.
Als das Ständetheater im Jahr von Mozarts 200. Todestag wiedereröffnet wurde, tat man es, wen wundert’s, mit Mozarts Prager Oper, der 1791 mit der Clemenza di Tito ein bedeutendes Nachspiel folgte. Die noch laufende Inszenierung wurde bereits über 150mal gebracht und steht seit 2012 auf dem Spielplan, womit die Intendanz nicht nur ein Touristenpublikum, sondern auch eine Klientel anspricht, die sich für Interpretationen interessiert. Die wichtigste Don-Giovanni-Frage, zu der jeder Regisseur Stellung beziehen muss, will er sich nicht dem Verdacht aussetzen, das Werk nicht „hinterfragt“ zu haben, ist immer noch die nach dem Hintergrund der ersten Szene. E. T. A. Hoffmann hat sie in einer genialisch-subjektiven Deutung zum ersten Mal ausgebreitet, Walter Felsenstein (dessen Inszenierung, wie sie der Film festhielt, heute mehr wie ein Overacting wirkt) hat sie so ausgedrückt: „Was geschah in Donna Annas Zimmer zwischen ihr und Don Giovanni?“ Felsenstein, und mit ihm einige Deuter, die sich weder um die Aussagen des Textes noch um die Musik scherten, behaupteten, dass Donna Anna vom nächtlichen Eindringling, dem sehnsüchtig nach Liebe verlangenden und die ideale Frau suchenden Don Giovanni, seelisch überwältigt worden sei. Im Sinne der Mozartzeit war der Mann, der die Frau (vielleicht…) zu vergewaltigen versuchte, ein „dissoluto“, ein „Bösewicht“ und „Wüstling“, dem die Begegnung mit der sich wehrenden Frau und die Tötung des Vaters zum Fatum wird, weil ihm von nun an alle Pläne fehlschlagen und ihm der Tod, konsequenterweise, am Ende in Gestalt des toten Vaters die eiskalte Hand reicht. Sein Höllensturz: der Lohn für ein liebeloses, amoralisches, ja unchristliches und unhöfisches Leben. Erst in der Romantik und der auf Psychoanalyse versessenen Moderne hat man, so scheint es, aus dem Schurken und geheimen Außenseiter einen Helden der Sehnsucht gemacht – und aus Donna Anna eine Frau, die lügt, als sie im berühmten Rezitativ Nr. 10 ihrem Verlobten die Identität des Nachtmannes verrät, aber nicht bekennt, dass sie von ihm, der so ganz anders agiert als der noble, zurückhaltende, vernünftige und aufgeklärte Verlobte, im tiefsten Sinne berührt wurde.
Die Kernfrage also. Das Programmheft hält sich hier vornehm zurück, die Inszenierung aber geht delikat mit diesem Punkt um. Donna Anna klammert sich – so steht’s ja auch im Libretto – an Don Giovanni, aber in Prag umfasst sie nicht die Arme, sondern seine Beine: wie eine Frau, die ihren Geliebten nicht loszulassen vermag und ihn halten will. Als Don Ottavio im zweiten Akt, Martin Šrejma macht das schon gut, seine Arie „Il mio tesoro intanto“ singt, sehen wir hinten den Don, wie er Donna Anna, die sich nicht sträubt (sie hebt lustvoll ein Beinchen), ohne Widerstand umfängt. Ist es ein Wahntraum des Verlobten? Ist es ein Wunschtraum Donna Annas? Und wenn schließlich Donna Anna den Don Ottavio beruhigen will und den seltsamen, in die Vergangenheit weisenden Satz „Du weißt, wie ich Dich liebte“ singt, schaut sie, zumindest zwischendurch, auf Don Giovanni, der, bereits von der Lebensmüdigkeit gezeichnet, vorn links im Halbdunkel des Bühnenrandes sitzt, während sich hinten Don Ottavio eine Flasche Marzemino – oder ist es tschechischer Schnaps? – in die Gurgel gießt.
Auch so kann man die zentrale Figur der Donna Anna interpretieren, ohne in jene Eindeutigkeiten zu verfallen, die Musik und Text negieren – und zugleich provozieren. Jana Šrejma Kačírková singt eine elegante und leidende, in den Höhen makellose und in der Mitte stimmschöne Anna, sie konterkariert damit deutlich die fast austauschbare Optik dieser Figur.
Denn Donna Anna ist hier, schaut man nur auf die Kostüme der Linda Boráros, nichts Anderes als eine Variante jenes Frauentyps, den dieser Don Giovanni so schätzt. Puppen mit kurzen Röcken und langen, wilden Haaren sind sie alle: zuerst die plebejische Zerlina, die, durchaus nicht gegen die Anlage und die Möglichkeiten dieser Figur und ihrer erotischen Interessen, schon schnell ihren blutroten Schlüpfer auszieht, denn bereit sein ist ja bekanntlich alles, und der Ehemann, gesungen von Pavel Švingr, ist ja eher ein grober Klotz. Lenka Máčiková singt sie, gesegnet mit einer wunderbar weichen Höhe, übrigens ganz hervorragend. Dann die noble Donna Anna, zum Dritten die kräftigere Donna Elvira, die von Veronika Hajnová wenig ansprechend, da zu ensemblestörend und schrill in der Höhe, gesungen wird – und die Kammerzofe der Elvira, die in dieser Inszenierung mehr ist als eine Erwähnung im Libretto. Sie tritt zusammen mit ihrer Donna auf, turtelt mit Leporello und lässt sich, bevor Don Giovanni sein Ständchen für sie singt, bereits mit ihm ein. Im Grunde sind Don Giovannis Frauen keine Frauen, sondern unreife Dinger: als suchte er nicht einmal im Sexuellen ein Äquivalent zu seiner entwickelten Männlichkeit. NB: Der Sänger der Uraufführung war, just in diesem Haus, nur 22 Jahre alt – und ein hervorragender Sänger. Von hier aus muss man den Don interpretieren, der kein alternder Lebemann, sondern ein skrupelloser Jüngling ist – 3000 Frauen hin oder her. Jiří Hájek singt einen herb baritonalen, schauspielerisch agilen, in der Verzweiflung des zweiten Akts äußerst überzeugenden Don Giovanni, dem wir eher die Brutalität als den Charme abnehmen – aber gewiss: beim Ständchen muss er sich ja auch nicht mehr, wir haben es gesehen, sonderlich anstrengen, um an das Objekt seiner Begierde heranzukommen. Diesem Typen nehmen wir es ab, dass er nichts Anderes zu sich nimmt als Wein und schwarze Rosen. Ein starkes Bild: Wie da immer wieder in Windeseile schwarze Rosen aus dem Boden wachsen, die er massenweise zu brauchen scheint. Es sind jene Kunstblumen eines lebenslangen und angekündigten Todes, die die erregte Donna Elvira im Gepäck hat, weil der Mann auch sie damit überschüttet hat. Schwarze Rosen, die wie Dartpfeile im Boden oder in der Wand hängenbleiben, sie werden im Finale des 1. Akts neben einigen Weinflaschen auf der Festtafel kredenzt. Vorher hat Leporello während der „Champagner-Arie“ – in der es nicht um Champagner geht, und die auch keine Arie ist – den Sekt im Zuschauerraum geöffnet: ein getreuer Diener und Handlanger seines Herren, dem es nichts auszumachen scheint, gewisse Mittel der Gewalt anzuwenden; wenn Don Giovanni Donna Anna überfällt, wird erst einmal der Verlobte chloroformiert und in der schwankenden Vertikalen festgehalten. Vermutlich steht in seinem Vertrag auch der Passus: „Reinigung des telefonzellengroßen Glaskastens, in dem der Herr regelmäßig mit Püppchen kopuliert“. František Zahradníček singt diesen Leporello wie aus dem Bilderbuch: nicht sympathisch, aber trotz gelegentlichen Widerstands loyal, nicht besonders „schön“, aber charakteristisch, mit seinen herausstatzenden Haaren ein direkter Abkömmling des Wiener Hanswurst. NB 2: Die Zeitgenossen dürften Don Giovanni, der explizit als Fresser und Wüstling geschildert wird, als bösen Genossen des Kasperls aufgefasst haben, der gleichfalls gegen die Normen, auch gegen die Ess-Sitten verstößt. Martin Stern hat 2004 ein schönes Büchlein über „Don Giovanni als Hanswurstiade“ veröffentlicht – in der Prager Inszenierung weist man auf den für viele Zuschauer verschütteten Zusammenhang zwischen dem Leporello und dem Hanswurst der Volksstücke des süddeutschen Barock hin, so wie die Kostüme das 18. Jahrhundert deutlich genug zitieren.
Und der Komtur? Er ist der bleiche Engel des Todes, der sich im Lauf des Spiels immer wieder in Erinnerung ruft, denn Tote leben bekanntlich länger, gehen nach ihrem letzten Röcheln elegant ab, erschrecken manchmal den Mörder, sitzen manchmal auch auf dem Komtursstuhl, um sich Arien oder ein Ständchen anzuhören. Roman Vocel verfügt über einen profunden Bass, der das Finale mit Spannung erfüllt. Martin Kukučka und Lukáš Trpišovský, die zusammen das Regieteam SKUTR bilden, haben jedoch nicht nur dem Komtur zusätzliche Auftritte gegeben. Die Choreographin Jana Burkiewiczová lässt von der Ouvertüre an die Puppen mit jungen Männern im Frack tanzen: Don Giovannis Frauen und Abbilder seiner selbst, die in der Sterbeminute des Komturs mit sechsfachen Doppelgängern in Form einer Orgelpfeifenreihe niedersinken. Drei Tänzer begleiten Donna Annas Arie „Or sai chi l’onore“ – träumt sie schon von ihm? Der getanzte Symbolismus wird realer, wenn die Tänzerinnen und ihre Partner das Fest des ersten Akts paarweise begleiten und im zweiten Akt auf Kinostühlen Platz nehmen, denn Don Giovannis Höllenfahrt läuft ab wie ein Schauspiel. Nun tragen sie alle, Männer und Frauen und Solisten, Masken, die nicht Anderes als Puppengesichter zeigen. Spielte der erste Akt noch in einem geschlossenen Raum mit vielen Klappfenstern und -türen (Möglichkeiten also des schnellen Verschwindens), auch einer gelegentlichen – und ironischen – Silhouette eines Storchenpaar in der Höhe einer weißen oder schwarzverbrannten Öffnung, so hat sich der von Jakub Kopeckś entworfene Raum nun ins Offene verwandelt. Einige armselige Bäume, ein bisschen Schutt: Hier beginnt der totale Abstieg mit den letzten Flimmerbildern eines Stummfilms, dem Gesicht einer jungen Frau in Extase, dann dem ausbleichenden Wort „Ende“, das später zum Wort „VENDETTA“ vervollständigt wird: wobei die beiden Ts wie Kreuze und das A wie ein Kreuz aussehen. Das Ständchen MIT der willigen Zofe geht vor bewegten Reihenbildaufnahmen (von E. Muybridge?) einer springenden Frau von 1890 und dem Komtur vor sich, bevor Don Giovanni die Asche des Komturs von ihm selbst erhalten und essen wird.
Das Finale aber kommt ohne alle Hinterbliebenen aus. Plötzlich erscheint Don Giovanni als „ragazzo“, als Knabe, der Komtur nimmt ihn in eine Bruchbude von Häuschen mit, entzündet nicht mehr als ein Streichholz, und als Don Giovanni, wie von einem Herzinfarkt niedergestreckt, zusammenbricht, sinkt auch der Knabe zusammen – und Vorhang. Die Moral von der Geschicht‘ fällt aus, die Oper endet mit jenem radikalen Schnitt, der gelegentlich am Opus angebracht wird: man spielt also die Prager Fassung ohne Prager Finale. Schade um die letzten Takte, von denen Joachim Kaiser einst – in Zusammenhang mit Wolfgang Gönnenweins Aufnahme des Werks – sagte: „Natürlich ist dieserr Aktschluss beifallprrovoziiierrend“. Im Sinne Mozarts und seiner Zeit wie den Konventionen eines Dramma giocoso ist dieser Cut gewiss nicht, aber wir haben genug gehört und gesehen, um zumindest theoretisch zu begreifen, dass nach diesem Ende eine Versöhnung mit irgendwelchen Konventionen kaum noch möglich scheint. In diesem Sinne haben wir einen „Don Giovanni“ erlebt, der die Geschichte konsequent und symbolisch, konkret und verspielt zuende erzählt, ohne auf ein Nach-Ende zu setzen. Aber schade ums eigentliche Finale ist es doch.
Wurde die Oper auch musikalisch befriedigend gebracht? Das Orchester des Národny divadlo hat unter dem Dirigenten Jan Chalupecký einen durchhörbaren und nicht zu langsamen, dramatisch wie lyrisch schönen „Don Giovanni“ gespielt. Der Ruf der böhmischen Holzbläser ist immer noch, zurecht, sehr gut. Verwundern muss nur der seltsam laute Klang, zumal während des ersten Akts, in dem aufgrund des geschlossenen, wenn auch nach oben offenen Bühnenraums, andere akustische Verhältnisse als im etwas ausgewogeneren zweiten Akt herrschen. Worauf auch immer die abnorme Dynamik der Sänger zurückzuführen ist: über weite Strecken klang ihr Sound seltsam laut, gelegentlich sogar hässlich detonierend. Schade – denn musikalisch wäre der Abend ansonsten, von den wenigen genannten Einschränkungen abgesehen, völlig von jenem Niveau gewesen, das der Kritiker der Uraufführung in der Prager Oberpostamtszeitung Anfang November 1787 als „gute Vorstellung“ bezeichnet hat. So aber blieben immer wieder Irritationen im Ohr hängen. Der Opernfreund empfiehlt der Intendanz des schönen und bedeutenden Hauses: Beseitigen Sie bitte, wie auch immer, diese unnatürlichen Klangstörungen – den Mozart- und den Opernfreunden zuliebe, die so gern dieses aussergewöhnliche Haus besuchen. Denn taub sind vermutlich die wenigsten Zuhörer.
Frank Piontek, 19.4. 2019
Foto: © Hana Smejkalová/Národní divadlo Praha
(Die Fotos zeigen nicht die Sänger der besuchten Afführung)