Vorstellung am 11. Juli 2013
OPERNBILDER AUS DEM BAROCKEN SERAIL
Es ist wahrlich ein gewisser Reiz, wenn in der modern-nüchternen List-Halle eine neue Verbindung von westlicher Barockmusik und klassischer türkischer Kunstmusik aus dem17. und 18. Jahrhundert präsentiert wird – und das Ganze als veritables Opernpasticcio, wie es auch im Programmheft genannt wird! So wie in der Barockzeit üblich, werden hier Szenen und Arien aus Opern von Vivaldi, Hasse, Porpora, Bononcini und Händel in einen neuen Zusammenhang gestellt – während die Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli und der Countertenor Filippo Mineccia virtuose Barockarien singen, bringt Harun Gürbüz türkische Kunstmusik. Dazwischen liest Thomas Höft in ironisch-belehrendem Ton die Geschichte der Roxelane nach den „Vier Briefen aus der Türkei“ von Ogier Ghiselin von Busbecq, 1581 (erschienen im Verlag der philosophischen Akademie, Erlangen, 1926).
Worum geht es da?
Es klingt ganz nach einer Geschichte aus „1001 Nacht“, ist aber wirklich passiert: Eine wunderschöne polnische Sklavin berührt im Istanbuler Serail das Herz von Sultan Süleyman. Und gegen alle Widerstände wird sie zu seiner Hauptfrau. Das Schicksal der Roxelane („der Russin“) inspirierte nicht nur die osmanische Welt, auch der Westen hörte von der erstaunlichen Begebenheit. Der Gesandte des Kaisers Ferdinand I., Ogier Ghiselin von Busbecq, übermittelte in seinen Briefen aus der Türkei die Geschichte, deren Zeuge er wurde. Und in zahllosen Drucken verbreitete sich die Kunde über ganz Europa. So findet sich in mancher barocken Oper noch ein Echo jener wahren Geschichte, die das Zeug zur Legende hat.
Und gleich vorweg: der Abend war ein uneingeschränkter Erfolg beim fast tausendköpfigen Publikum in der wohl ausverkauften Konzerthalle. Das Publikum erfreute sich nicht nur an dem leicht aufnehmbaren gefälligen Programm, sondern wohl auch an der offensichtlichen Musizierfreude der Ausführenden. Auf dem Podium fand sich ein bunt gemischtes Ensemble zusammen: das erst seit einem Jahr bestehende Grazer Instrumentalensemble „recreation BAROCK“ gemeinsam mit dem Pera-Ensemble (benannt nach einem Stadtteil von Istanbul), von den türkischen Musikern Mehmet Cemal Yeşilçay und İhsan Özer 2005 gegründet und inzwischen international sehr erfolgreich. Für seine Produktion »Baroque oriental« wurde Pera 2012 mit dem Echo Klassik in der Kategorie »Klassik ohne Grenzen« ausgezeichnet. Diese beiden Ensembles spielten nicht etwa abwechselnd – nein: sie spielten gleichsam in einer Ost-West-Durchdringung praktisch alle Stücke des Abends gemeinsam. Man wurde an das schöne Goethe-Wort erinnert: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“ Und zu dieser Basis von 21 Instrumentalisten treten der Erzähler und die drei Gesangssolisten, zwei aus Italien, einer aus der Türkei. Die Programmzustellung und die Arrangements stammen vom Leiter des Pera-Ensembles Mehmet Cemal Yeşilçay. Die dirigentische Koordination lag bei Michael Hofstetter.
Wohl ausgewogenen wechseln Instrumentalnummern, darunter auch – etwas aus dem Konzept fallend, aber natürlich publikumswirksam – der Sommer aus Vivaldis Jahreszeiten, mit schwärmerisch-melancholischen, aber auch virtuos attackierenden Bravourarien und einigen Duetten – alles verbunden durch den roten Faden der Beschreibung eines osmanischen Serails im 16.Jahrhundert. Für mich ist ein Höhepunkt des Abends die großartige Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli, die gleich in ihrem ersten Auftritt mit dem wohlbekannten Lascio ch’io piango aus Händels Rinaldo durch wunderbare Pianokultur berührt, und die im weiteren Verlauf auch in den dramatischen Koloraturen in Höhe und Tiefe überzeugt. Zu Recht wird die junge italienische Sopranistin derzeit in allen Medien gepriesen – zuletzt zum Beispiel für ihre ausgezeichnete Leistung als Händels Agrippina in Giessen (übrigens ebenfalls unter Michael Hofstetter). Auch auf dem Konzertpodium vermittelt sie packende Präsenz – das war überzeugendes Musiktheater! Ein zweiter Höhepunkt ist Filippo Mineccia, der erst 32-jährige controtenore aus Florenz. Er hat an diesem Abend eindrucksvoll bestätigt, dass hier ein großes Talent auf diesem diffizilem Gebiet heranwächst und man kann nur in voller Überzeugung das bestätigen, was in der italienischen Fachliteratur schon 2010 über ihn geschrieben wurde: „Mineccia si candida a essere il controtenore sulle cui spalle poggiano le speranze di un futuro che ci si augura doni finalmente al controtenorismo italiano un nome di richiamo degno di competere con le migliori scuole vocali internazionali“. Er hat diese Hoffnungen schon jetzt erfüllt und hat zweifellos internationalen Rang! Der türkische Tenorsolist darf mit diesen beiden genuin italienischen Barockspezialisten nicht verglichen werden. Harun Gürbüz hat eine völlig andere Gesangstechnik, die sicherlich die Ansprüche der türkischen Kunstmusik erfüllt. Aber wenn er gemeinsam mit dem controtenore ein Duett aus Vivaldis La Fida Ninfa singt, dann wird zwar der Kontrast zwischen diesen beiden Gesangszugängen sehr deutlich, aber ehrlich gesagt: mir ist es lieber den Unterschied zu registrieren, wenn der controtenore Vivaldi und der Türke seine eigene Musik singt. Ein Vermischen von beiden Stilen schadet beiden Seiten.
Und an dieser Stelle darf schon ein gewichtiger Einwand zum gesamten Abend erhoben werden: Gegenüberstellung ja, aber Vermischung nein! Das gedruckte Programm vermittelt den Eindruck, man werde an diesem Abend einerseits Vivaldi, Händel, Porpora, Bononcini, Steffani und andererseits Werke der türkischen Komponisten Sadullah Aga (1730 – 1810) und Ali Ufki (1630 – 1675) hören. Nur bei einem Stück von Hasse ist klar ausgewiesen, dass es sich hier um eine türkische Bearbeitung durch Ali Ufki handelt. Aber ganz am Ende des Programms steht dann: Arrangements Mehmet Cemal Yeşilçay. Und so erlebte man eigentlich nicht ein Pasticcio (siehe dazu den sehr gut dokumentierten Wikipedia-Beitrag: http://de.wikipedia.org/wiki/Pasticcio_%28Musik%29 ), sondern – wenn man es unfreundlich sagt – einen Einheitsbrei: die europäische Barockmusik wird durchgehend mit türkischen Flöten-Klagen und Schellentrommel-Rhythmen „angereichert“ und die türkische Kunstmusik wird mit europäischen Barockstreicherklängen durchmischt…… Und damit ist es eigentlich auch selbstverständlich, dass die instrumentale Seite des Abends nicht jenes Niveau erreichen konnte, das Sopran und controtenore vorgegeben haben. Michael Hofstetter war nicht mehr als ein routinierter Koordinator – seinen bedeutenden und unbestrittenen Ruf als Barockspezialist wird er wohl er ist in zukünftigen Grazer Auftritten bestätigen können.
Aber was soll der Einwand – und damit komme ich an den Anfang meines Berichts zurück:
Die Ausführenden auf dem Podium hatten an ihren unterschiedlichen Musikzugängen sichtlich Freude und der Abend war ein uneingeschränkter Publikumserfolg.
Hermann Becke
Fotos: styriarte, Werner Kmetitsch
Hinweise:
– Zur Sopranistin: http://www.francescalombardi.com/
– Zum Countertenor: http://www.filippomineccia.com/home.php
– Das vollständige Programmheft kann auf der Website der Styriarte abgerufen werden: http://styriarte.com/de/programm_2013/wochenuebersicht/harem