29.6. im Mausoleum und 10.7.2022 in der Helmut List Halle
Acapella-Gesang des 15./16.Jhdts und Popfarben von heute
Zur besonderen Qualität des Festivals Styriarte, das 1985 gegründet wurde, – ursprünglich um Nikolaus Harnoncourt enger an seine Heimatstadt Graz zu binden – gehört vor allem die ungeheure Bandbreite, die in einem Monat mit über vierzig verschiedenen Veranstaltungen an wechselnden Aufführungsorten geboten wird. Der seit 1990 im Amt befindliche Intendant Mathis Huber hat es verstanden, das urspüngliche Festival-Profil weiterzuentwickeln und den sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Als Lehre aus den Corona-Einschränkungen und den Wünschen des nach wie vor herbeiströmenden Publikums, gibt es z.B. nur mehr Programme ohne Pause mit einer Spieldauer von etwa 75 Minuten. Es lohnt sich, Hubers Beitrag mit dem Titel Wer braucht die Kunst zu lesen. Da kennt man die Grundlagen für das Gesamtkonzept.
Jedes Jahr gibt es als Klammer ein Jahresmotto – 2022 ist es Auf Reisen.
Diesmal greife ich aus der Fülle zwei Veranstaltungen heraus, die die Vielfalt sehr schön dokumentieren – es ist nicht nur ein Kontrast im Programm, sondern auch in den Veranstaltungsorten.
Das Konzert mit dem Titel Innsbruck ich muss dich lassen fand im Grazer Mausoleum statt, in dem der Habsburger-Kaiser Ferdinand II 1637 beigesetzt wurde. Der kostbare Fischer-von-Erlach-Bau erwies sich für das Renaissanceprogramm akustisch ideal geeignet und wird leider im Alltag viel zu wenig für Konzertzwecke genutzt. Im speziell für historisch Interessierte sehr lesenswerten Programmheft heißt es einleitend:
Die Reisekaiser und Könige des 16. Jahrhunderts: ein 4- bis 6-stimmiges Programm zu Maximilian I., seinem Enkel Karl V., dessen Sohn Philipp II. und deren Gegenspieler François I.
Das 2004 in Wien gegründete Ensemble Cinquecento besteht aus fünf professionellen Sängern aus fünf verschiedenen europäischen Ländern und entnimmt seinen Namen dem italienischen Ausdruck für das 16. Jahrhundert. Die paneuropäische Struktur des Ensembles (die Mitglieder stammen aus Österreich, Belgien, Deutschland, England und der Schweiz) schlägt einen gedanklichen Bogen zu Chören der kaiserlichen Kapellen im 16. Jahrhundert, deren Mitglieder nach ihrem sängerischen Können aus den besten musikalischen Institutionen Europas ausgewählt wurden.
Zum gewählten Programm liest man:
„Dauernd auf Achse“. Dies war nicht nur das Schicksal der mittelalterlichen „Reisekaiser“, sondern auch ihrer Nachfolger aus dem Hause Habsburg, zumindest bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Maximilian I. und sein Enkel Karl V. konnten nur durch dauerndes Reisen die Teile ihrer zerklüfteten Reiche zusammenhalten. Ständige Krisen und Brandherde trieben sie quer durch Europa, stets begleitet von den Sängern ihrer Hofkapellen. Cinquecento lädt im heutigen Programm zu einer Musikreise an der Seite der beiden Kaiser ein, die im dritten Teil im strengen Spanien Philipps II. endet. Dabei werden unterschiedlichste Reiseziele klingend berührt: Innsbruck, das Maximilian so liebte und sein Hofkomponist Isaac besang; Burgund, wo sich Maximilian vermählte und sein Enkel Karl aufwuchs, wo aber auch so viele große Komponisten der Epoche geboren wurden: Josquin, Gombert, Isaac; Rom, wo Morales für Karl V. und Palestrina für Philipp II. Ihre Messen komponierten; schließlich Sevilla und Toledo im Spanien Philipps II. Alle diese Reiseziele werden im steten Wechsel zwischen geistlicher und weltlicher Musik lebendig: Eine Messe von Isaac dient als roter Faden. Kaiserliche Trauermusiken von Costanzo Festa und Cristóbal de Morales stehen dem lichten Ave Maria von Josquin gegenüber. Deutsche Lieder und französische Chansons lassen die erlauchte Hofkultur der Renaissance aufleuchten.
Für die sechsstimmingen Werke trat zu den 5 Ensemblemitglieder Terry Wey, Achim Schulz, ToreTom Denys, Tim Scott Whiteley und Ulfried Staber als Gast diesmal der Tenor Jan Petryka und fügte sich bruchlos ein. Er war ja schon im Vorjahr Partner in der hörenswerten CD-Produktion von Isaacs Messe gewesen., die diesmal im Programm das Zenturm ist. Das Ensemble zeichnet eine besondere stimmliche Ausgewogenheit aus – niemand dominiert, dennoch bleiben im Gesamtklangbild die einzelnen Stimmen immer klar hörbar. Eindrucksvoll ist auch die Kultur des gemeinsamen Atmens. Der Abend war ein Musterbeispiel für idealen Acapella-Gesang. Ich hatte eigentlich gedacht, das Konzert mit dem exquisiten Eliteprogramm werde vielleicht nicht so sehr vom Publikum nachgefragt. Aber ich hatte mich geirrt: das Konzert war ausverkauft und die Ausführenden wurden am Ende heftig akklamiert.
Hörfunkübertragung: 3. August, 19.30 Uhr, Radio Ö1
In eine völlig andere musikalische Welt führte uns das Programm TRAVEL DIARIES in der nüchtern-funktionellen Helmut-List-Halle, die im Jahr 2003 aus einer abbruchreifen Fabrikshalle zu einem modernen Konzertsaal umgebaut worden war. Marie Spaemann (Cello & Gesang) und Christian Bakanic (Akkordeon) boten Unterhaltungsmusik unserer Zeit. Marie Spaemann antwortet im Programmheft auf die Frage Inwieweit reisen Sie in Ihren Programmen? :
Ich habe das Gefühl, dass die unterschiedlichsten Geschichten und Eindrücke im Laufe unseres musikalischen Lebens zu uns gereist sind. Und wir erzählen das nun nach. Da ist sehr viel Tango, da sind Ausflüge in den Pop, und es sind bei uns eben auch Covers von Sting oder The Cure … also wir blättern auf, was uns beeindruckt und geprägt hat. Ein französischer Walzer, den Christian Bakanic geschrieben hat, oder ein arabisches Liebeslied, das ich mit einem hebräischen Volkslied verbinde, weil das eben in der Utopie eines Songs möglich ist. Wir reisen also in gewissem Sinne dem nach, was uns über all dieJahre der Zusammenarbeit beeinflusst und geprägt hat.
Dieses Programm war in deutlichem Kontrast zu den Acapella-Gesängen der Renaissance und ist ein neuerlicher Beleg für das Credo von Intendant Mathis Huber, der schon vor drei Jahren in einem Interview gesagt hatte:
„Der Erfolg von Formaten aus der Unterhaltungsindustrie ist nicht zu übersehen. Und es sollte nicht ausgeschlossen sein, dass die Kunst derartige Unterhaltungsformate übernimmt oder sich daran orientiert. Wir haben hier keinerlei Berührungsängste.“
Und es zeigt sich, wie recht Mathis Huber mit seinem Konzept hat: das Publikum füllte die Säle und es ist eben ein durchaus unterschiedliches Publikum! An diesem Tag gab es drei verschiedene Styriarte-Programme: um 11 Uhr spielte im barocken Minoritensaal der meisterhafte Lautenist Hopkinson Smith Renaissancemusik und um 18 und 20h30 versammelte Maestro Jordi Savall in der Pfarrkiche Stainz ein brillantes Barockensemble um sich und ließ Charpentiers Te Deum und Bachs Magnificat in glänzendem Licht erstrahlen. Dennoch ist an diesem Tag in der Helmut-List-Halle das poppige Programm praktisch ausverkauft und vom Publikum freudig und heftig akklamiert. Das ist wahrhaft festspielwürdige Vielfalt!
Marie Spaemann und Christian Bakanics musizierten ausgezeichnet. Ich persönlich habe nur einen grundsätzlichen Einwand, den ich nicht müde werde, immer wieder zu artikulieren. Das letzte Foto zeigt sehr bildhaft, was mich stört: „Zwischen“ den Musikern und dem Publikum baut sich massiv die Tontechnik geradezu als verfremdende „Mauer“ auf. Da sind nicht nur die Mikros, sondern auch die Lautsprecher, die jenes Klangbilder vermitteln, die der Tontechniker mischt. Das hat mich diesmal in zweifacher Hinsicht besonders gestört. Das Cello klang nicht wie ein Cello und der Haupteinwand: der Tontechniker nahm nicht Rücksicht darauf, ob die beiden Künstlern moderierend sprachen oder musizierten. Für mich – und viele andere – war Marie Spaemann im Sprechen praktisch unverständlich und viel zu hallig-verschwommen – schade! Für jene, die im Konzert waren, aber natürlich auch für jene, die nicht dabei sein konnten, hier der Hinweis auf die im November 2020 erschienene CD Metamaorphosis, die viele Stücke des diesmal gespielten Programms enthält und aus der auch die Zugabe stammte.
Marie Spaemann und Christian Bakanics sind mit dem Programm weiter auf Tournee durch Deutschland und Österreich. Mögen sie weiter so viel Erfolg haben wie diemal in Graz. Ich würde sie sehr gerne einmal kammermusikalisch ohne technische Verfremdung erleben – bösartig gesagt: ohne elektronische „Mayonnaise“, die für mich die Substanz unnötig überlagert!
Hermann Becke, 12. 7. 2022
Aufführungsfotos: Styriarte © Nicola Milatovic