Carmina burana – Jordi Savall – 18. und 24. Juli 2021
Nach einer Vielzahl von erfreulichen Styriarte-Erlebnissen seit Ende Juni gab es gegen Ende zwei besondere Publikumserfolge.
Die Carmina burana von Carl Orff zählen zu den populärsten Stücken des 20.Jahrhunderts. Gerade nach den monatelangen Corona-Einschränkungen ist es besonders eindrucksvoll, in diesem mitreissenden Werk erstmals wieder über 200 Mitwirkende auf dem Konzertpodium zu erleben! Das etwa einstündige Stück wurde an zwei aufeinanderfolgenden Tagen viermal hintereinander aufgeführt – eine besondere Herausforderung für alle Ausführenden! Wenige Tage nach seinem 26.Geburtstag war zweifellos der Grazer Dirigent Patrick Hahn der entscheidende Motivator dafür, dass die Kraftanstrengung durch die Grazer Chöre (Einstudierung; Gerd Kenda, Maria Fürntratt und Franz M.Herzog), durch das große Recreation-Orchester Graz und durch die drei Solisten mit spürbarer Begeisterung absolut überzeugend gelang.
Patrick Hahn hat zweifellos eine große internationale Karriere vor sich. Ab Herbst wird er der jüngste GMD Deutschlands als Generalmusikdirektor der Wuppertaler Bühnen und Sinfonieorchester GmbH – es lohnt sich, einen Blick auf seinen dicht gefüllten Terminkalender 2021 zu werfen! Eindrucksvoll war, mit welch souveräner Konzentration Patrick Hahn Chor, Orchester und Solisten zusammenhielt – klare, uneitle Zeichengebung, nie nachlassende Spannung, Klangbalance, lyrische Ruhepunkte, klug gestaltete Übergänge zwischen den einzelnen Teile und merkliche Zentrierung aller Ausführenden machten den Abend zu einem Erlebnis.
Die Solisten führte die Sopranistin Tetiana Miyus mit ihrer in allen Lagen (bis zum dreigestrichenen d) und in allen dynamischen Absstufungen technisch absolut sicher geführten Stimme an – eine neuerliche Glanzleistung der 33-jährigen Ukrainerin, die aus dem Opernstudio der Oper Graz hervorgegangen ist. Ebenfalls von dort kommt der Tenor Mario Lerchenberger, der die groteske Szene des gebratenen Schwans mit gebührend drastischer Larmoyanz und ideal passender Stimme gestaltete. Die heiklen hohen d bewältigte er in allen drei Strophen mit einer wohldosierten Mischung zwischen Brust- und Kopfstimme – Gratulation!
Zu Mario Lerchenberger und Patrick Hahn eine Anmerkung: Beide sind Studienkollegen und Absolventen des führenden österreichischen Chorpädagogen Johannes Prinz und haben schon zu Studienzeiten miteinander musiziert:
Den größten Solopart hat der Bariton. Der junge Straßburger Damien Gastl bewältigte die schwierige und hochliegende Partie mit sympathischem Engagement und drastischem Ausdruck, aber es sei nicht verschwiegen, dass mir – zu den beiden anderen Solisten passend – zwei junge Baritone der Grazer Oper einfallen, die mit kernigeren und gefestigteren Stimmen die Orff-Drastik zweifellos besser bewältigt hätten. Damien Gastl beherrschte leider weder im lyrischen Omnia sol temperat ein ausreichend im Körper verankertes Piano, noch hatte er die nötige dramatische Stimmsubstanz im Ego sum abbas und musste im Dies, nox et omnia in das Falsett ausweichen. Diese (persönlich empfundenen) stimmlichen Einwände ändern aber gar nichts am großartigen Gesamteindruck einer begeisterten und begeisternden Aufführung – das Publikum spendete zu Recht großen und lautstarken Beifall, in dessen Mittelpunkt – auch von allen Ausführenden herzlich akklamiert – zweifellos der Dirigent Patrick Hahn stand, der von Graz weiter zu den Salzburger Festspielen reiste, wo er die Uraufführung der Kinderoper Vom Stern, der nicht leuchten konnte von Elisabeth Naske leiten wird.
Den zweiten hier zu besprechenden Abend gestalteten der große Jordi Savall und das von ihm gegründete Orchester Le Concert des Nations mit Musik des 18. Jahrhunderts von Jean-Féry Rebel, Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck. Assoziationen zu Patrick Hahn/Jordi Savall: Hahns Auftritt bei den Salzburger Festspielen (siehe oben) folgt demnächst, Jordi Savall kommt gerade aus Salzburg von der Ouverture Spirituelle – Patrick Hahn dirigierte seine Grazer Konzerte wenige Tage nach seinem 26. Geburtstag – Jordi Savall feiert demnächst seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass ist übrigens im österreichischen Hörfunk OE1 das Grazer Konzert am 28.Juli zur Gänze nachzuhören – hier der link.
Le Concert des Nations besteht seit 1989. Da gibt es Mitglieder, die praktisch von Beginn an mit Jordi Savall musizieren, wie etwa der spanische Percussionist Pedro Estevan oder der deutsch-argentinische Konzertmeister Manfredo Kraemer – im Laufe der Jahre sind dann weitere Mitglieder dazugekommen, wie z.B. der italienische Cembalist Luca Guglielmi. Diese erfahrenen Mitglieder zählen seit Jahrzehnten zum Kernensemble und nehmen ganz organisch die jungen neuen Mitglieder in das traditionsreiche Musizieren mit. Alle sind herausragende und international tätige Spezialisten in der Interpretation der Alten Musik. Und das ergibt – abgesehen natürlich vom Programm – einen entscheidenden Unterschied: in den Carmina burana beherrschte erfrischende Begeisterung die Interpretation. Bei Jordi Savall sind es ungeheure Erfahrung und technische Meisterschaft. Das birgt natürlich immer ein wenig die Gefahr der Routine und ich gestehe, zu Beginn schienen mir Jordi Savall und sein Orchester ein wenig müde.
Aber selbst dann spielen sie dank ihrer Erfahrung meisterhaft – es waren ja auch lauter Werke, die sie seit Jahren immer wieder interpretiert hatten. Les Éléments von Jean-Féry Rebel gibt es seit 2015 auf CD und die Händel’sche Wassermusik gar seit 1993. Relativ neu im Repertoire von Savall mit dem Concert des Nations ist Glucks für Wien komponierte Ballettmusik Don Juan. In Kombination mit Rebel und Händel – also genau das Grazer Programm! – war dieses farbenreiche und selten zu hörende Gluck-Stück im Oktober 2020 für das Liceu Barcelona geplant, musste dort aber leider corona-bedingt abgesagt werden. So erlebten wir also in Graz eine frisch erarbeitete Interpretation und plötzlich waren für mich Savall und sein Orchester nicht nur von technischer Meisterschaft, sondern auch von spontaner Spielfreude und Brillanz erfüllt. Das Publikum war begeistert und Savall sagte mit seinem unverwechselbaren Charme die einzige Zugabe an, die er schon als eine „Grazer Tradition“ bezeichnete: eine lebhafte Contredanse aus Les Boréades von Rameau. Tasächlich hatten wir sie zuletzt bei der Styriarte 2019 erlebt und wiederum war das Publikum sozusagen als Percussionskollektiv eingeladen, auf Savalls Zeichen einen immer wiederkehrenden Rhythmus zu klatschen. Das Publikum machte begeistert mit – auch dieses Stück findet sich – natürlich längst! – mit Jordi Savall hier auf youtube.
Der berchtigte Publikumsjubel war groß.
Eines der schätzenswerten Spezifika des Styriarte-Festivals ist es, dass der Intendant Mathis Huber sofort nach dem letzten Festspieltag öffentlich Bilanz zieht und auch konkrete Zahlen nennt. Hier ein Auszug aus der heutigen Pressekonferenz – inzwischen auch schon auf der Homepage nachzulesen:
Die Styriarte 2021 spielte 75 von 77 geplanten Vorstellungen (2 Wanderungen „Im Weinberg“ fielen dem Regen zum Opfer). Zu ihren Vorstellungen kamen 30.218 Besucher und kauften Karten im Wert von EUR 1.336.358. Sowohl die Besucher-Zahl als auch der Kartenumsatz bewegten sich im Planziel und im oberen Durchschnitt der letzten zehn Styriarte-Jahre vor 2020. Die Styriarte 2021 hatte einen Ausgabenrahmen von rund EUR 2,9 Mio. In allen Produktionen der Styriarte 2021 wurde unser Publikum in den Distanzregeln, die vor Juli 2021 gegolten haben, platziert, und ausnahmslos nach einer 3G-Kontrolle in die Vorstellungen eingelassen. Auch auf der Seite der Künstler und der Mitarbeiter wurden durch ein engmaschiges Testsystem die Covid-Vorschriften übererfüllt. Im Laufe der Styriarte 2021 führten unsere Testteams dazu mehr als 800 Antigen-Tests und 1.242 PCR-Test durch, die sämtlich negativ ausgefallen sind.
Zusätzlich gibt es auf youtube ein wohlgelungenes und sehenswertes 10-Minuten-Video mit Auschnitten aus den wesentlichsten Veranstaltungen, das sehr schön die Vielfalt des Festivals dokumentiert.
Die Styriarte 2022 wird vom 24. Juni bis zum 24. Juli 2022 stattfinden. Ausgehend von einer weiteren Produktion im Rahmen des FUX-OPERNFEST es, diesmal „La corona d’Arianna“ aus dem Jahr 1726, wird die Styriarte 2022 ihr Programm unter dem Motto „Auf Reisen“ gestalten. Der „Opernfreund“ hat natürlich vor, über dieses wichtige österreichische Festival auch 2022 zu berichten.
Hermann Becke, 26.7.2021
Aufführungsfotos: styriarte, © Nikola Milatovic