Mailand: „I Vespri siciliani“, Giuseppe Verdi

Nach dem Erfolg, den Giuseppe Verdis „Jérusalem“ (die Umarbeitung der „Lombardi alla prima crociata“) 1847 in Paris gehabt hatte, wurden ihm immer wieder Vorschläge für eine grand-opéra im französischen Stil gemacht, doch erst 1854 konnte sich der Komponist entschließen, sich dieser Aufgabe zu stellen. Das Werk umfasst alle von der Pariser Oper für eine solche Komposition geforderten Voraussetzungen: 5 Akte, ein großes Ballett im 3. Akt, Chormassen, höchste Ansprüche an die Kehlen der Protagonisten. Verdi achtete auch besonders darauf, der Prosodie des Librettos von Eugène Scribe und Charles Duveyrier zu folgen, konnte oder wollte sich aber eine sehr italienisch klingende Cabaletta für Procidas berühmte Arie „Oh tu Palermo“ nicht verkneifen. (Scribe hatte sein altes Libretto für Le Duc d’Albe herangezogen, das er für Donizetti geschrieben hatte, der aber die Arbeit daran nach einiger Zeit aufgab). Die Zusammenarbeit mit den Librettisten erwies sich nicht als reibungslos, und Verdi musste mehrmals energisch werden, um zu bekommen, was er wünschte (und von der Dramaturgie her ist der letzte Akt ja wirklich schlampig aufgebaut). Die Uraufführung 1855 wurde in Paris ein großer Erfolg, und Verdi wollte in seiner Heimat bald eine übersetzte Fassung vorstellen. Allerdings legte sich die Zensur quer, behandelte das Sujet doch den Aufstand der Sizilianer 1282 gegen die Besatzung durch die Franzosen. Die Handlung wurde nach Portugal im 18. Jahrhundert, als die Spanier das Land besetzt hielten, verlegt, und der Titel lautete bei der Erstaufführung in Parma nun „Giovanna di Guzman“. Erst nach der Einigung Italiens im Jahr 1861 konnte die Oper unter ihrem eigentlichen Titel an der Mailänder Scala gespielt werden.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Bisher wurde das Werk, das 1951, 1970 und 1989 zur Eröffnung der Scalasaison gegeben wurde, immer in der italienischen Fassung gespielt, und auch diesmal wurde keine Ausnahme gemacht. Dirigent Fabio Luisi erklärte in der Pressekonferenz diese Entscheidung damit, dass Verdi auf die Übersetzung gedrängt hatte und sich mit der französischen Fassung nicht wohlfühlte. Daher wurde auch die wohl beste Ballettmusik des Komponisten nicht gespielt (keine Erklärung gab es dafür, dass der den 5. Akt einleitende Chor gestrichen war und der Sopran ansatzlos den Bolero singen musste). Außerdem muss gesagt werden, dass die von dem Offizier Eugenio Caimi erstellte Übersetzung nicht auf der Höhe eines auch nur passablen Librettos ist. (Das spiegelt sich schon im „falschen“ Titel, denn nur im Französischen kennt die Vesper, bezogen auf den Aufstand der Sizilianer, die Mehrzahl, im Italienischen steht sie – wie im Deutschen – in der Einzahl). Es nimmt also Wunder, dass man sich an der Scala nicht zu einer französischsprachigen Produktion durchringen konnte. (Der Vergleich mit dem auch für Paris geschriebenen „Don Carlos“ ist nicht statthaft, denn Verdi hat an dessen italienischen Fassung auch musikalisch gar nicht wenig geändert, sodass man von zwei verschiedenen Werken sprechen kann).

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Die Inszenierung war Hugo De Ana anvertraut worden, der wie immer auch sein eigener Bühnen- und Kostümbildner war. Man ist von diesem Künstler gewohnt, dass es nicht viel Personenführung gibt, dafür aber meist eindrucksvolle Bilder. Diesmal war das leider nicht so, denn die Handlung spielte sich zwischen Panzern und anderem modernem Kriegsgerät ab. Sollte damit die Landung der Alliierten in Sizilien gemeint sein, ist die Voraussetzung falsch, denn diese kamen ja als Befreier, nicht als Besatzer. Nur der 5. Akt war heller und zeigte einen großen Olivenbaum, der aber abgeerntet wurde, was wieder nichts mit der bevorstehenden Hochzeit zu tun hatte. Der Chor und sämtliche Solisten trugen Kleidung zwischen Grau und Schwarz, Arrigo einen dunkelblauen Pullover, den er für die Hochzeit im 5. Akt gegen einen schicken Anzug tauschte, der aber an keine Eheschließung denken ließ, ebenso wenig das geblümte Kleid, das Elena zu diesem Anlass trug. Die Bühnenbilder hatten eine absolut deprimierende Wirkung, denn auch die Chance, die Stimmung durch das große Fest im Palast des Gouverneurs Monforte zu lockern, wurde nicht wahrgenommen, weil ein solches Fest nicht gezeigt wurde, sondern die Beleuchterbrücke und anderes Material aus Metall die Bühne beherrschten. Lena Lojodice, ständige Partnerin von De Ana für die Choreographie, hatte für die Tänzer seltsame Bewegungen erdacht, was auch für die Tarantella im 2. Akt gilt. Im Übrigen gab es viel Wirrwarr auf der Bühne, und nicht immer konnte man zwischen Besatzern und Sizilianern unterscheiden. Warum auch die Figur des Todes aus Bergmans berühmtem Film „Das siebente Siegel“ bemüht wurde, blieb unklar und seine eingelegten Tanzschritte noch mehr. Und dass zweimal geschossen wird, während die Musik spielt, ist überhaupt inakzeptabel.

Die musikalische Umsetzung war trotz kleiner Abstriche sehr erfreulich. Fabio Luisi ließ das Blech immer wieder den martialischen Charakter vieler musikalischer Stellen unterstreichen, doch kamen auch die intimeren Szenen zu ihrem Recht, vor allem die besonders schöne Melodie der Vaterliebe Monfortes. Das Orchester folgte ihm willig, und der von Alberto Malazzi einstudierte Chor sang stimmkräftig, aber nicht immer mit der gewohnten Präzision, was vermutlich auf das auf der Bühne herrschende Durcheinander zurückzuführen war.

Der zunächst als Bösewicht gezeichnete, dann aber seinen väterlichen Gefühlen erliegende Monforte wurde von Luca Micheletti mit weichem, schön timbriertem Bariton gesungen. Der ursprünglich als Schauspieler und Regisseur tätige Künstler konnte seine diesbezügliche Erfahrung einbringen und war de Einzige, der ein echtes Rollenporträt lieferte. Procida, der Patriot, der nicht müde wird, gegen den Feind zu hetzen und eigentlich keine sehr sympathische Figur ist, wurde von dem Südkoreaner Simon Lim verkörpert, der über einen echten Bass verfügt und auch gute Technik zeigte; allerdings hätte man sich gewünscht, dass er szenisch weniger steif wirkte. Die beiden Liebenden Arrigo und Elena haben Rollen, die zu den schwierigsten des gesamten Repertoires gehören. Piero Prettis Tenor verfügte über unermüdliche Strahlkraft, und es war bewundernswert, wie er die hohe Tessitura und die vielen im passaggio angesiedelten Noten ohne augenscheinliche Mühe durchhielt. Marina Rebeka hingegen liegt die Tessitura der Elena immer wieder zu tief; vor allem im ersten Akt blieb sie fast unhörbar. Dort, wo sie ihren Sopran in die Höhe schrauben und schön öffnen konnte, klang sie allerdings sehr gut. In den etwas größeren Nebenrollen bewährten sich die Bässe Andrea Pellegrini (Sire di Bethune) und Adriano Gramigni (Conte Vaudemont) sowie der Tenor Giorgio Misseri (Danieli). Die kleineren Nebenrollen wurden von Brayan Avila Martinez, Christian Federici und den beiden Schülern der Accademia della Scala Valentina Pluzhnikova (Mezzo) und Andrea Tanzillo (Tenor) interpretiert.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Obwohl manche Besucher in der zweiten Pause den Saal verlassen hatten, gab es am Schluss sehr viel Beifall für die Protagonisten, wobei Rebeka besonders gefeiert wurde, was mir nicht ganz verständlich war.

Für den 21.2. gab es eine Besetzungskombination, die mich veranlasste, die Produktion nochmals zu besuchen. In zwei Vorstellungen sollten Angela Meade (ihr Scaladebüt) die Elena und Roman Burdenko den Monforte singen, allerdings nur in dieser letzten gemeinsam. Leider war Meade erkrankt, sodass Rebeka neuerlich die weibliche Hauptrolle übernahm. Dennoch kann ich von zwei Neulingen berichten, denn auch Piero Pretti war erkrankt und wurde (an diesem Datum schon zum zweiten Mal) durch Matteo Lippi ersetzt. Als Schüler von Mirella Freni verfügt der Tenor über eine bewundernswerte Technik, wozu leuchtendes Stimmmaterial kommt. Beides erlaubte ihm, die schwierige Rolle zur größten Zufriedenheit zu bewältigen und dem Arrigo jugendlichen Schwung zu verleihen. Bravo! Burdenkos Bariton ist weniger weich als der Michelettis, besitzt aber ein sehr interessantes Timbre; außerdem ist der Sänger ein ausgezeichneter Schauspieler, und die große Vater-Sohn-Szene im 3. Akt generierte von beiden Seiten höchste Spannung. Rebeka, Simon Lim und die anderen Mitwirkenden wiederholten ihre mir schon bekannten Leistungen, was auch für Fabio Luisi und das Orchester gilt. Der Chor hatte zugelegt und sang nun souverän.

Am Schluss großer Jubel für alle.

Eva Pleus 24. Februar 2023


I Vespri siciliani

Giuseppe Verdi

Teatro alla Scala, Mailand

8. und 21. Februar 2023

Regie: Hugo De Ana

Choreographie: Leda Lojodice

Dirigent: Fabio Luisi

Orchester und Chor des Teatro alla Scaladebüt