Mailand: „Il pirata“

Aufführung am 9.7.18 (Premiere am 29.6.)

Fünfzigprozentiger Belcanto

Vincenzo Bellinis erste Erfolgsoper war 1827 an der Scala uraufgeführt und 1830 sowie 1840 nochmals gezeigt worden. Dann war Pause bis 1958 in der berühmten Produktion (von der es leider keine Aufnahme gibt) mit der unüberbietbaren Konstellation Callas-Corelli-Bastianini.

Im Zuge einer Wiederbelebung der Tradition des Belcanto war nun an der Scala eine Neuinszenierung zu erleben. Im Vorfeld wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass vokale Vergleiche mit der Aufführung vor sechzig Jahren nicht zulässig seien, da die jetzigen Künstler viel mehr zu singen hätten als damals, als Belcanto-Opern noch rigoros zusammengestrichen wurden, ganz zu schweigen vom Stil, wurden seinerzeit die Belcantotenöre doch durch heldentenorales Zwischenfach ersetzt.

Das Werk des 25-jährigen Bellini stellt sehr deutlich den Übergang von der Klassik zur Romantik dar, denn es erweist sich zwar als von Rossini, Haydn und Mozart beeinflusst, trägt aber bereits eine Melancholie und „Verzweiflung an der Welt“ in sich, die dem Komponisten aus Catania auch durch das erste Libretto, das Felice Romani für ihn geschrieben hat, zugetragen wurde. Gualtiero, der titelgebende Pirat, ist ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener, ganz im Sinne eines Lord Byron. Die von ihm geliebte Imogene, die mit seinem Feind Ernesto eine Zwangsehe eingegangen ist, um ihren Vater vor der Hinrichtung zu retten, kann in dieser Männerwelt nur dem Wahnsinn verfallen, denn auch Gualtiero hat kein Verständnis für ihre Lage, bedroht gar ihr von Ernesto empfangenes Kind. Der Pirat wird Ernesto töten und für diese Tat herausfordernd und freiwillig zum Richtplatz gehen.

Vokal werden höchste Anforderungen an die Sänger gestellt. Die Titelrolle wurde für Giovanni Battista Rubini geschrieben, berühmt für den süßen Klang seines Tenors und die Leichtigkeit seiner Höhen. Heute stellt die Partie (wie alle für Rubini geschriebenen) angesichts eines höheren Diapasons und der Tatsache, dass man sich nicht mehr der Technik des falsettone bedient, eine besondere Herausforderung dar, noch dazu in einer kompletten Fassung der Oper. Piero Pretti stellte sich überaus mutig diesen Schwierigkeiten, sang die teuflischen Höhen tapfer mit Bruststimme und war auch im Auftreten überzeugender Vertreter eines Outlaws. Eine echte Topleistung erbrachte Sonya Yoncheva, die mit schlackenlos geführtem, nie ermüdendem Sopran bewies, dass ihr Ruf in diesem Fach mehr als gerechtfertigt ist. Ihre scheinbare Kühle, die mich bei ihr stört, wenn sie Figuren von Puccini oder Verdi verkörpert, passt vorzüglich zu diesen Kunstfiguren der Romantik, und sie weiß die dramatische Koloratur so zu differenzieren, dass das Interesse des Hörers immer hellwach bleibt. Dass sie in der ersten Oktave die Stimme nachdunkelt, um nach Callas zu klingen, sei ihr verziehen. Leider war Nicola Alaimo für den Ernesto ungeeignet, denn sein angenehm timbrierter Bariton plagte sich nicht nur mit den Verzierungen, sondern auch mit den Tiefen, die Antonio Tamburini, dem basso cantante, der die Rolle bei der Uraufführung gesungen hat, vermutlich wohl anstanden.

In den Nebenrollen bewährten sich der Tenor Francesco Pittari (Itulbo) und der Mezzo Marina De Liso (Adele), während der junge Bass Riccardo Fassi als Goffredo enttäuschte. Am Pult des Orchestra della Scala waltete Riccardo Frizza mit sicherer Zeichengebung seines Amtes, ohne speziellen Eindruck zu hinterlassen. Ein weiteres Mal lobenswert der von Bruno Casoni einstudierte Chor des Hauses.

Die Regie von Emilio Sagi beschränkte sich auf das Arrangement des vokalen Personals, mit Ausnahme der sehr gelungenen Schlussszene, in der sich die wahnsinnig gewordene Imogene in das den Katafalk Ernestos deckende Tuch wickelt. Hier rief Yoncheva gesanglich wie darstellerisch starke Emotionen hervor. Das Bühnenbild von Daniel Bianco zeigte vor allem ein ästhetisch erfreuliches Schlossinneres (obwohl der Blick nach draußen auf ein Birkenwäldchen fiel, das eher an Tschechow denken ließ), dessen teilweise Verspiegelung von Albert Faura gekonnt beleuchtet wurde. Die Kostümbildnerin Pepa Ojanguren tobte sich vor allem bei den drei prachtvollen Roben für den Sopran aus, die von Yoncheva mit großer Eleganz getragen wurden.

Das alles andere als volle Haus jubelte der Sopranistin zu, bedankte Pretti (der sich angesichts seiner Leistung mehr Beifall verdient hätte) und Alaimo (der bei der Premiere einen Buhsturm erleben musste). Nach der Sommerpause geht es im September mit „Alì Babà e i quaranta ladroni“ von Luigi Cherubini weiter.

Eva Pleus 21.7.18

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala