Mailand: „Fidelio“

Aufführung am 5.7.18 (Premiere am 18.6.)

Orchestral besser als stimmlich

Die Produktion war eine Wiederaufnahme der Regie von Deborah Warner aus der Saison 2014/15. Mein seinerzeitiger Eindruck blieb unverändert: Anschauliche, auch beeindruckende Bühnenbilder (eine vergammelte Werkshalle und ein Feuchtigkeit atmendes Verlies) von Chloe Obolensky und geeignete Kostüme derselben Künstlerin, wobei besonders Leonores Overall zu loben ist, der sie glaubhaft als Burschen auftreten lässt. Die Beleuchtung von Jean Kalman lag zwar in den Händen von Valerio Tiberi, funktionierte aber bestens. Warner selbst hatte die Proben der Wiederaufnahme geleitet und scheint mir in ihrer realistischen, in der heutigen Zeit spielenden Arbeit neben dem depressiv zur Schnapsflasche greifenden Rocco ein paar weitere Details hinzugefügt zu haben. So erlauben sich Pizzarros Gefolgsleute (keine Soldaten, sondern ein wilder Haufen, dessen Bewegungen so gar nicht zu Beethovens Marschmusik passen) mehrmals einen Griff auf Marzellines verlängerten Rücken, der von dem Mädchen natürlich entrüstet abgeblockt wird.

Marzelline darf auch verträumt Fidelios Namen vor sich hinsagen. Weiters kein Grund zur Aufregung, aber da hätte man gleich auch so schön altmodische Ausdrücke wie „Tochtermann“ und „Eidam“, die nun wahrlich nicht in diese heutige Umgebung passen, durch „Schwiegersohn“,ersetzen können. Das Ziel, die Dialoge möglichst natürlich sprechen zu lassen, funktionierte ausgerechnet bei Leonore und Florestan nicht, die eher beiläufig und ohne dramatische Grundierung sprachen. Massenszenen sind, wie schon vor drei Jahren bemerkt, Warners Sache nicht; der Auf- und Abtritt der Kerkerinsassen erfolgt eher unlogisch, und in der letzten Szene sind der (unter Bruno Casoni wieder prachtvoll singende) Chor und die mimende Statisterie nicht gut gemischt. Außerdem durfte der Minister ursprünglich mit Sakko und Krawatte (wenn auch mit der Hand in der Hosentasche) auftreten, diesmal war er gleich hemdsärmelig und krawattenlos.

Dirigent Myung-Whun Chung hatte sich für die 3. Leonoren-Ouvertüre entschieden (Barenboim ließ 2014 die 2. spielen), die er an den Anfang des Werkes stellte. Es war eine erstklassige Interpretation des Orchesters des Hauses, bei dem mir nur ein klein wenig der absolute Streicherglanz fehlte, was bei einer Wienerin vermutlich DNA-bedingt ist. Den ganzen Abend war zu hören, wie vertraut Chung mit symphonischer Musik ist, obwohl er sehr auf die Sänger achtete und sie niemals zudeckte.

Als Vertreterin der Titelrolle war ursprünglich Simone Schneider angekündigt, dann kam Ricarda Merbeth mit Schneider als Zweitbesetzung, die aber letztendlich überhaupt nicht auftrat. In dieser sechsten Vorstellung der Reihe hatte hingegen Jacquelyn Wagner ihren dritten und letzten Auftritt. Ich hatte ihrer Eva bei den hiesigen „Meistersingern“ im März des Vorjahres einen „sehr reinen, aber eher kleinen Sopran“ bescheinigt, woran sich nichts geändert hat und was sie für die Leonore ungeeignet macht. Ein paar schön aufgehende Spitzentöne können nicht für eine matte Mittellage und unhörbare Tiefe entschädigen. Da kann auch ihr unbefangenes Spiel nicht helfen.

Die Aussage von nicht ausreichender Stimmkraft trifft auch auf Luca Pisaroni zu, der vokal eine Schmalspurausführung von Pizzarro war. Vor allem in der hitzigen Abfolge des 2. Akts blieb er teilweise unhörbar. Auch ihn konnte die ausgezeichnete schauspielerische Leistung (mehr Hochstapler als Brunnenvergifter) nicht retten. Um bei den kleinen Stimmen zu bleiben: Eva Liebau gab eine szenisch resolute Marzelline ohne große vokale Durchschlagskraft, und auch vom temperamentvollen Jaquino Martin Piskorski war mehr zu sehen als zu hören. Stuart Skelton verlieh dem Florestan zwar einen kraftvollen Tenor, aber ein gebundener gesanglicher Bogen stellte sich nicht ein; dass er äußerlich nicht dem halbverhungerten Gefangenen entsprach, teilt er mit vielen Fachkollegen. Stephen Milling hingegen war ein stimmlich mehr als befriedigender Rocco, der auch besonders teilnahmsvoll spielte. Während die Chorsolisten Giuseppe Bellanca und Massimo Pagano als 1. und 2. Gefangener passabel ergänzten, war die Leistung von Martin Gantner als Don Fernando mit trockenem Bariton und ausgezehrter Tiefe eine ziemliche Zumutung.

Das Publikum feierte Chung, applaudierte Milling sehr herzlich, buhte Wagner kräftig aus, ließ die anderen aber ungeschoren. Ein nicht sehr erhebender Abend.

Eva Pleus 10.7.18

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala