Mailand: „La Traviata“ konzertant

Aufführung am 22.9. (Premiere am 15.9.)

Besser konzertant komplett

Angesichts der durch die Pandemie erzwungenen Zugangsbeschränkungen von maximal 600 Besuchern hat sich Intendant Dominique Meyer verständlicherweise dafür entschieden, in dieser Herbstsaison populäre, für das Publikum attraktive Werke anzusetzen.

Den Anfang machte die konzertante Wiedergabe des Werks von Giuseppe Verdi. Obwohl auf dem Programmzettel nichts Diesbezügliches vermerkt ist, kann doch von einer halbszenischen Aufführung gesprochen werden. Das bezieht sich nicht auf ein eventuelles Bühnenbild, denn es gab nur zwei Stühle und für den letzten Akt eine chaise-longue als Violettas Sterbelager, sondern auf die überaus lebhafte Interaktion zwischen den Sängern, die sich auch auf die Nebenrollen erstreckte. So lässt man sich konzertante Interpretationen gerne gefallen, sodass man sich fragt, warum es immer noch Aufführungen gibt, in denen die einzigen „Ansprechpartner“ der Sänger die Notenpulte sind. Das Modelabel Dolce & Gabbana hatte für Violetta und Flora hochelegante Roben bereitgestellt. Und da gab es meiner Ansicht nach einen Misston, denn die Interpretin der Annina erschien in einem eigenen Glitzerkleid, das ihrer sozialen Stellung als Zofe widersprach. Wären alle steif an der Rampe gestanden, wäre das nicht weiter aufgefallen, aber da man als Zuschauer eine echte Handlung verfolgen konnte, wirkte dies (zumindest für mich) störend. (Genauso hätte ich Alfredo für den 2. Akt passende Freizeitkleidung statt seines Fracks gewünscht).

Doch nun zu Wichtigerem: Das Orchester befand sich auf der Bühne, der Chor war auf eine Weise positioniert, dass er nicht zu sehen war (zum Glück war er in der Einstudierung von Bruno Casoni in bekannter Qualität zu hören). Die Sänger standen mit dem Rücken zum Dirigenten, dem sie über gut versteckte Monitore folgten. Zubin Mehta wurde für seine Leitung des Orchesters des Hauses herzlich akklamiert, und ich schließe mich dem in Würdigung der lebenslangen Leistung des indischen Künstlers bedingungslos an, auch wenn er – sichtlich von Krankheit gezeichnet – eine mehr routinierte als markante Interpretation bot.

Die Titelrolle sang Marina Rebeka, die ich im Vorjahr nicht unbedingt als Idealbesetzung empfunden hatte, während sie mich diesmal, auch durch ihren vollen schauspielerischen Einsatz, durchaus überzeugte. Stimmlich ausgezeichnet in Form, verlieh sie ihrer großen Szene im 1. Akt alle Farben zwischen Lebensgier und Sehnsucht nach echter Liebe. Verzweiflung und Resignation fanden später hohe expressive Umsetzung. Von „Addio del passato“ wurde auch die zweite Strophe gesungen, was uns zu einem nicht immer kohärenten Strich führt, denn Alfredo sang nur den ersten Teil seiner Cabaletta, Germont hingegen seine oft gestrichene zur Gänze. Germont père wurde einmal mehr von Leo Nucci verkörpert, dessen Interpretation insofern kontrovers war, als er im zweiten Teil des Duetts mit Violetta mimisch und körpersprachlich versuchte, Verständnis für die Qualen der jungen Frau zu signalisieren, was aber mit seinem gebellten (das muss ich leider so sagen) declamato kontrastierte.

Der Brasilianer Atalla Ayan war im Auftreten ein überzeugender, von seinen Leidenschaften gebeutelter, junger Mann. Allerdings legte sich nach vielversprechendem Beginn recht bald ein Schleier über seinen Tenor, der ihn ausgesprochen dumpf klingen ließ. Seltsam war die Wahl des in seinen Charakterrollen hinreichend gelobten Carlo Bosi für den Gaston, waren doch aus der Accademia della Scala immerhin Annina (Francesca Pia Vitale, die mit ihrer guten gesanglichen Leistung den oben erwähnten Fauxpas des Kleids vergessen ließ) und Bryan Avila Martinez (Giuseppe) aufgeboten. Chiara Isotton war die schon seit längerem verlässliche Flora. Zufriedenstellend Costantino Finucci (Douphol), Alessandro Spina (Grenvil) und Ernesto Panariello (Diener Floras/Kommissar). Hingegen fiel Fabrizio Beggi (d’Obigny) durch übertrieben lautes Trompeten seiner Phrasen auf.

Insgesamt ein zufriedenstellender Abend, besonders angesichts der in meinen Augen inakzeptablen „Bearbeitungen“ und Kürzungen der großen Meisterwerke in Deutschland (als Beispiel nenne ich „Don Carlo“ in Dresden).

Eva Pleus 27.9.20

Bilder: Brescia & Amisano / Teatro alla Scala