Mailand: „Peter Grimes“, Benjamin Britten

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

So schwach die Regie von Robert Carsen in der Wiener „Manon Lescaut“ ist, so bestechend gelang ihm seine Inszenierung von Benjamin Brittens Opernerstling. (Es fragt sich nur, warum diesem immerhin 2000 und 2012 jeweils in Neuproduktionen gezeigten Werk nicht „Billy Budd“ vorgezogen wurde, das an der Scala noch nie gespielt wurde). Jedenfalls ist Carsen in einem je nach Szene nur wenig abgewandelten Einheitsbühnenbild von Gideon Davey, der auch für die den Charakteren genau angepassten Kostüme verantwortlich war, eine sehr dichte Arbeit gelungen. Auch wenn das Meer nicht zu sehen war, war die Atmosphäre des Fischerdorfs und seiner Spelunke in jedem Moment präsent. Als etwas störend habe ich empfunden, dass die Handgriffe für die  Veränderung der Szene während der wundervollen Zwischenspiele stattfanden und damit von der Musik ablenkten; andererseits waren sie dadurch in den Ablauf integriert, der die steigende Bedrängung des Protagonisten überzeugend umsetzte (Choreographie: Rebecca Howell). Manchmal wurde auch Peters Gesicht groß in den Hintergrund projiziert (Video: Will Duke) und hob sich damit von der Masse der Dorfbewohner ab. Allerdings wurde auch der Chor des Hauses phantastisch geführt, sodass innerhalb dieser Masse doch jeder gestisch wie körpersprachlich eine eigene Individualität entwickelte. Der hervorragenden Lichtgestaltung durch Carsen im Verein mit Peter van Praet war es zu verdanken, dass die vorherrschenden Grau- und Brauntöne das Auge nicht ermüdeten.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Der Qualität der Inszenierung entsprach auch die musikalische in hohem Maße. Das Scaladebüt von Simone Young hätte nicht glücklicher ausfallen können, denn die temperamentvolle Australierin hatte zum Orchester des Hauses eine merklich gute Beziehung aufgebaut und vermochte kraft ihrer Erfahrung mit einem ihrer Lieblingswerke Brittens Aufschrei gegen die Vorurteile gegenüber einer ausgegrenzten Existenz perfekt umzusetzen. Fabelhaft sang der schon erwähnte Chor in der Einstudierung von Alberto Malazzi.

In der Titelrolle erwies sich Brandon Jovanovich als wandlungsfähiger Interpret, dessen stimmliche Gestaltung wohl zwischen den extremen Polen Peter Pears auf der einen und Jon Vickers auf der anderen Seite lag.(Für Pears‘ hellen, leichten Tenor geschrieben, mochte Britten die kraftvolle, klassisch gewordene Interpretation durch Vickers gar nicht). Jedenfalls eine sehr gute Leistung des Amerikaners, der Grimes‘ Schwanken zwischen Brutalität und Zartheit voll auslotete. Ellen Orford, die einzige Figur, die eine Arie hat, war bei Nicole Car bestens aufgehoben, und man nahm ihr diese geradezu mütterliche Sorge um Grimes gerne ab. Der gutmütige Captain Balstrode, dem Peter so gerne nacheifern will, wurde von dem Isländer Ólafur Sigurdarson warmherzig interpretiert, aber auch mit dem nötigen Nachdruck, als er Grimes zum Selbstmord auf dem Meer auffordert. Eine Luxusbesetzung für den engstirnigen Swallow war Peter Rose mit charaktervollem Auftreten. Sehr gelungen war auch die Zeichnung der geschwätzigen, bösartigen Mrs. Sedley durch Natascha Petrinsky. Eine liebenswerte Schenkenwirtin „Auntie“ war Margaret Plummer, mit Young und Car die Dritte im Bunde der Australierinnen. Katrina Galka aus den USA und Tineke van Ingelgem aus Belgien gaben gekonnt die beiden aufreizenden Nichten, denen das Rotlichtmilieu nicht fremd war. Auf bestem Niveau ergänzten der Ire Michael Colvin (Bob Boles), der Engländer Benjamin Hulett (Rev. Adams), der Amerikaner Leigh Melrose (Ned Keene) und der weitere Amerikaner William Thomas (Hobson). Nicht vergessen werden soll auch der überzeugend agierende Junge Tommaso Axel Versari.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Viel Jubel für eine Oper, die nicht der populärsten eine ist, für Jovanovich, Car und das gesamte Ensemble, Ovationen für Young.

Eva Pleus, 19. November 2023


Peter Grimes
Benjamin Britten

Teatro alla Scala

24. Oktober 2023 (Premiere am 18. Oktober)

Inszenierung: Robert Carsen
Musikalische Leitung: Simone Young
Orchestra del Teatro alla Scala