Mailand: „Rigoletto“

Aufführung am 5.7.22 (Premiere am 20.6.)

Bei dieser letzten Neuproduktion vor der Sommerpause zeigte Mario Martone sehr deutlich den Unterschied zwischen einem Regisseur, der dem Werk auf den Grund gehen will, und einem, der nur seine persönlichen Befindlichkeiten illustrieren möchte, auf. Martone zählt zur Kategorie der Künstler, die sich mit Oper ernsthaft auseinandersetzen und kann dabei auch seine Film- und Sprechtheatererfahrungen einbringen.

Von Margherita Palli ließ er sich ein Luxusresort zu ebener Erde und 1. Stock entwerfen, in dem es im ersten Bild hoch herging mit Alkohol, Drogen, nur allzu willigen Mädchen. Das ist berechtigt, denn immerhin spricht Monterone in seiner Anklage von Orgien, und es ist schon einmal gut, dass die harmlosen höfischen Zeremonien der vorhergehenden Inszenierung, die von 1994 bis 2019 immer wieder auf dem Spielplan stand, abgelöst wurden. Die Drehbühne zeigt uns dann ein Elendsviertel mit vielen zwielichtigen Gestalten; hier haben Rigoletto und Gilda Unterschlupf gefunden und sich – nach den Maßstäben dieser Umgebung – geradezu häuslich eingerichtet. Der 2. Akt spielt wieder im Resort, diesmal mit leeren Flaschen und anderen Überbleibseln einer durchfeierten Nacht, im 3. kehren wir in die armselige Absteige zurück. Mit dieser geschickten Lösung wird auch ein Szenenwechsel für das letzte Bild vermieden. Die "heutigen" Kostüme von Ursula Patzak charakterisierten von Businessanzügen über Jeans und Miniröcke die Figuren bestens. Ein großes Lob auch für die Beleuchtung von Pasquale Mari, die in dem verwinkelten Slum nicht einfach zu bewerkstelligen war.

In dieser vom Geld regierten Welt, in der man sich den Herzog gut als Börsenspekulanten vorstellen kann, versucht Rigoletto Fuß zu fassen, ohne zu begreifen, dass ihm der soziale Aufstieg für immer verwehrt bleiben wird (charakteristischerweise hat er keinen Buckel, sondern bewegt sich nur mit einer gewissen Plumpheit). Sein Verhältnis zu Gilda ist nicht so sehr das eines liebenden Vaters als besitzergreifend und ohne Verständnis für die Träume seiner pubertierenden Tochter. In seinem Duett mit Gilda changiert er zwischen Heftigkeit und Selbstmitleid. Gilda ist auf Rebellion eingestellt, verliert auch die Geduld mit dem Vater und wird im letzten Bild versuchen, mit einem Küchenmesser auf Maddalena loszugehen. Diese Konstellationen sind bis ins Kleinste durchdacht. Als Beispiel sei nur genannt, dass der Herzog schleunigst seine teure Uhr in der Tasche verschwinden lässt, als Gilda im von ihm belauschten Gespräch mit Giovanna (übrigens auch keine vertrauenerweckende Person) bekennt, dass sie keinen Wert auf Reichtum legt. Der (wie manches andere) an dem vielfach prämierten koreanischen Film "Parasite" inspirierte Schluss hat eine nicht unbedingt notwendige Pointe, wenn nach Gildas Ermordung die Bühne je eine Hälfte der beiden Bühnenbilder zeigt und die underdogs die Reichen ermorden. Das war es wahrscheinlich auch, was bei der Premiere trotz starker Zustimmung auch massive Missfallenskundgebungen bewirkte.

Die Sängerbesetzung war ganz vorzüglich: Amartuvshin Enkhbat hat, unterstützt von Martone, seine Rollenauffassung weiter nuanciert (ich habe den inzwischen zum internationalen Star aufgestiegenen Mongolen schon 2018 in dieser Rolle gehört). Diese Baritonstimme ist die ausladendste, aber gleichzeitig am schönsten timbrierte der Neuzugänge der letzten zwanzig Jahre. Phrasierung, Technik, Expressivität sind auf einem Niveau, das uns viele Rollen – vor allem von Verdi – von dem Künstler erwarten lässt. Nadine Sierra hatte die Gilda schon 2016 an der Scala gesungen und gefiel mir schon damals. Auch sie hat aber weiter an sich gearbeitet und sang mit ihrem klaren, lyrischen Sopran nicht nur ein "Caro nome", in dem auch die Koloratur zu ihrem Recht kam, sondern sie gestaltete die Arie mit dem Ausdruck eines erstmals verliebten Teenagers in einer Intensität, wie ich sie bisher noch nie gehört hatte (und es war immerhin mein 61. "Rigoletto"). Ausgezeichnet auch die Leistung von Piero Pretti in der in ihrer vokalen Schwierigkeit oft unterschätzten Rolle des Herzogs, der diesmal kein taufrischer Jüngling war, sondern ein echter, durch (allzu) viele Erfahrungen gegangener Libertin. Hätte Pretti ein Timbre mit Wiedererkennungswert, befände er sich in der allerersten Tenorliga. Gianluca Buratto war endlich einmal ein echt "bassiger" Sparafucile, der nur im Gewitterterzett etwas forcieren musste, weil der Dirigent voll aufdrehte. Mit vom Timbre her als authentischer Mezzosopran erkennbar, interpretierte Marina Viotti die richtige Mischung zwischen Prostituierter und Sympathie für den Freier Empfindende. Fabrizio Beggi gab einen nachdrücklichen, auch in materielles Leid gefallenen Monterone, wenig stimmliche Kontur zeigte Anna Malavasi als Giovanna. In jeder Hinsicht auf gutem Niveau zeigten sich Costantino Finucci (Marullo), Francesco Pittari (Borsa), Andrea Pellegrini (Ceprano), Rosalia Cid (Gräfin Ceprano), Chorsolist Guillermo Esteban Bussolini (Gerichtsdiener) und Mara Gaudenzi aus der Accademia della Scala als Page.

Die musikalische Leitung von Michele Gamba wirkte etwas uneinheitlich, denn neben in den dramatischen Szenen überzeugend hitzigen Tempi gab es manchmal auch ein Zuviel an Lautstärkepegel (was leider vielen jüngeren Dirigenten vorgeworfen werden muss). Im Ganzen führte er das gut disponierte Orchester des Hauses aber zu einer ausgezeichneten Leistung. Das gilt auch für den von Alberto Malazzi bestens einstudierten und sehr spielfreudigen Herrenchor.

Keine Spur von Protest bei dieser sechsten Vorstellung, sondern langanhaltender Jubel für die Protagonisten.

Eva Pleus 16.7.22

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala