Mailand: „Carlo il Calvo“, Nicola Porpora

Nur einen Abend lang gab es an der Scala ein konzertantes Gastspiel dieser Oper von Nicola Porpora (1686-1768, Neapel). Dieser Abend hatte es allerdings in sich! Wie so viele der süditalienischen zeitgenössischen Komponisten war Porpora in Europa unterwegs, von Wien (wo Joseph Haydn sein Schüler war!) über Dresden bis London (dort als Rivale Georg Friedrich Händels). Er war aber nicht nur als Komponist berühmt, sondern auch als Gesangslehrer, dessen bedeutendster Schüler Carlo Broschi war, der als Fünfzehnjähriger bei Porpora zu studieren begann und unter dem Namen Farinelli der angesehenste Kastrat seiner Zeit wurde.

Es verwundert somit nicht, dass im hier besprochenen, 1738 in Rom uraufgeführten, Werk gleich drei Kontratenöre vorgesehen sind. Die Handlung beruht auf einem historischen Sujet, das aber von einem anonymen Librettisten – wie eigentlich immer in Barockopern – mehr als frei abgehandelt wird. Es geht um die Machtkämpfe von Lothar I. (hier: Lottario), um die von seinem Vater, Ludwig dem Frommen, bestimmte Aufteilung der Lande zwischen seinen Söhnen zu umgehen. Er bezichtigt daher Ludwigs Gemahlin Judith (hier: Giuditta) des Ehebruchs, und dass aus diesem Fehltritt Karl entsprang (historisch Karl II. mit dem Beinamen „der Kahle“, was aber nicht auf fehlende Haarpracht zurückzugehen scheint, sondern auf im Vergleich mit seinen Brüdern kleineres Gebiet, über das er herrschen konnte). Das interessiert uns aber insofern nicht weiter, als der Titelheld hier noch ein Kind ist und vor allem bei seinen Auftritten nichts zu singen hat. (Im Übrigen wurden ihm in dieser konzertanten Fassung ein Auftreten erspart). Bis zum Happyend befetzen die Personen der Handlung einander, was mit abwechselnd elegisch klagenden Gesängen einhergeht.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Aber wie das klingt, das muss man gehört haben! Der auf der Seite des Rechts stehende Adalgiso wurde von Franco Fagioli auf atemberaubende Weise gesungen. Jeder Ton, jede noch so waghalsige Koloratur ließen eine ganze Palette von Gemütszuständen hören, denen man gebannt folgte. Die Spannung des Publikums löste sich nach jeder Arie in einem Begeisterungstaumel. Lottario, der Böse, der sich erst in den letzten zehn Minuten zum Guten bekehrt, wurde von Max Emanuel Cencic auf Augenhöhe mit Fagioli gesungen. Auch hier maximale Expressivität in allen zwischen Bösartigkeit und Scheinheiligkeit schillernden Nuancen. Der dritte im Bunde der Falsettisten heißt Dennis Orellana und stammt aus – Honduras. Es ist unglaublich, aus welchen Weltenteilen speziell für Barockmusik ausgebildete Sänger kommen können.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Der junge Mann überzeugte ebenfalls und arbeitete als Berardo (er ist angeblich Giudittas Partner bei ihrem Ehebruch) mit voll strömender Stimme die dramatischen Aspekte seiner Rolle prachtvoll heraus. Bei den Damen glänzte ganz besonders Julia Lezhneva als Gildippe, Adalgisos Verlobte. Die charismatische Sopranistin (im Libretto als Mezzo geführt) führte alle Wunder, derer die menschliche Stimme fähig ist, vor, aber auch hier niemals als Selbstzweck, sondern immer im Dienst der Musik. Ein besonderer Höhepunkt unter all diesen Höhepunkten war ihr seufzendes Duett mit Fagioli, „Dimmi che m’ami“. Die Sopranistin Suzanne Jerosme (Giuditta) gab ihrer Verzweiflung mit dramatisch geladenem Affekt Ausdruck, während der Mezzo (im Libretto Sopran) Ambroisine Bré der einzigen Arie von Edvige, Berardos Verlobter, mit samtener Stimme Ausdruck verlieh. Als intriganter Asprando, der Lottarios düstere Pläne unterstützt, hielt sich der Tenor Stefan Sbonnik mehr als wacker.

Der Grieche George Petrou leitete sein Ensemble Armonia Atenea souverän, und in der Person der sieben Sänger waren sechs Nationalitäten (Argentinien, Russland, Kroatien, Frankreich, Honduras und Deutschland) vertreten. Wenn das kein Zeichen für die völkerverbindende Wirkung der Musik ist…

Das Publikum war jedenfalls hingerissen und feierte alle Beteiligten ausgiebig, bis der Konzertmeister das Zeichen zum Aufbruch gab.

Eva Pleus 22. Juni 2023


Nicola Porpora: Carlo il Calvo

Teatro alla Scala

Besuchte Vorstellung: 14. Juni 2023

Konzertante Aufführung

Musikalische Leitung: George Petrou

Ensemble Armonia Atenea