Mailand: „Li zite ngalera“, Leonardo Vinci

Personen unserer Leserschaft, die über Italienischkenntnisse verfügen, mögen an diesen nicht zweifeln: Der obige Titel ist „auf Neapolitanisch“, einem Idiom, das mehrheitlich nicht als Dialekt, sondern als eigene Sprache gesehen wird. Der Titel bedeutet im Italienischen „Gli sposi sulla nave“, also „Die Brautleute auf dem Schiff“. (Ich hatte mich vor den Erklärungen in der Pressekonferenz an einer Übersetzung versucht und war auf „Die Mädchen im Gefängnis“ gekommen…).

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Mit dieser Produktion setzt die Scala ihre Erforschung früher Zeitalter des Musikgeschehens fort; war es im Vorjahr Cavalli und damit das 17. Jahrhundert, ging es nun um Leonardo Vinci und das 18. Der in Kalabrien geborene Vinci (1690 oder 1696-1730), der in Neapel studiert hatte, war zu Zeiten Pergolesis und Scarlattis auch international ein großer Name, und nur sein früher Tod (angeblich in einer Ehrensache wegen einer Dame – ach, diese Barockkünstler!) verhinderte eine noch brillantere Laufbahn. In der ersten Hälfte seiner Tätigkeit widmete sich Vinci der gerade im Entstehen begriffenen und zu großer Popularität bestimmten commedeja ppe museca, einer Art Singspiel im Dialekt, wo aber die Musik größeren Platz hatte als etwa in dessen deutschem Gegenstück. Die Arien der acht Hauptpersonen sind, weil ohne da capo, wesentlich kürzer als üblicherweise in der barocken opera seria, und großteils auch einfacher zu singen (vermutlich auch, weil das kleine Teatro dei Fiorentini in Neapel für die Uraufführung 1722 über keine großen Stars verfügte).

Die Handlung folgt dem bekannten Schema zweier Paare, die am Schluss zusammenfinden müssen,  bringt aber zur Unterhaltung des Publikums die beliebten Figuren des verliebten Alten und der nach einem Verehrer/Bräutigam suchenden komischen Alten, sowie als (stark präsente) Nebenfiguren zwei Bedienstete, die die Verwirrung noch vergrößern. Das gilt vor allem für Cicariello (Kosename für Francesco), der als eine Art Clown die Protagonisten wiederholt in die Irre führt. Die mit Vor- und Nachnamen genannten Personen der Handlung (was bewusst geschah, um die Ferne von heroischen Erzählungen der opera seria zu betonen) sind Carlo Celmino (Hosenrolle, Sopran), Belluccia Mariano (Sopran, für heutige Ohren Mezzo), Ciomma Palummo (Sopran), Meneca Vernillo (die Witwe ist mit einem Tenor besetzt!), Titta Castagna (Alt, heute Altus), Col’Agnolo (Tenor), Ciccariello (Sopran, heute Countertenor), Rapisto (Bass). Dazu gesellen sich gegen Ende noch Assan (Bass) und Na Schiavotella (eine junge Sklavin, Sopran).

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Die am Faschingsdienstag spielende Handlung ließ Regisseur Leo Muscato in einer kleinen Pension der Meneca spielen. Da die Schauplätze immer wieder wechseln, kam es zu 36 (!) Szenenwechseln, die von Bühnenbildnerin Federica Parolini grandios (weil lautlos und superschnell) durch Verschieben des jeweiligen Hintergrunds bewältigt wurden. Die Szenographie und die gelungenen Kostüme von Silvia Aymonino trugen, ebenso wie die atmosphärische Beleuchtung von Alessandro Verazzi,zum Eindruck bei, sich in einer Komödie von Goldoni zu befinden. (Dabei darf das gelungene Libretto von Bernardo Saddumene [Deckname/Anagramm eines höfischen Beamten] nicht vergessen werden; Goldonis Stücke kamen allerdings erst rund 40 Jahre später auf die Bühne). Auch konnte man die von Zeit zu Zeit flanierenden Personen als Teil des Gesamtkonzepts erleben und nicht als aufgepfropften Aufputz.

Exzellent war die musikalische Umsetzung. Das auf historischen Instrumenten spielende Orchester des Hauses wurde von Elementen des La Cetra Barockorchester aus Basel verstärkt, und das Diapason betrug die im 18. Jahrhundert geläufigen 415 Hertz. Dirigent Andrea Marcon, Spezialist dieses Repertoires, zeigte die Wurzeln des dramma giocoso auf, in dem Mozart 50 Jahre später seine Meisterschaft bekunden sollte. Ein dem Regisseur wie dem Ensemble geschuldeter Höhepunkt des Abends war im 3. Akt eine Tarantella, bei der die Sänger jeweils ein Instrument spielten, was zur Entstehungszeit des Stücks die Norm war, hier aber besondere, berechtigte Bewunderung erregte. Die Szene bewirkte auch durch ihre Lebhaftigkeit spontanen Applaus.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Exquisit die Sängerbesetzung: Als Belluccia, die ihren ungetreuen Verlobten sucht, brillierte Chiara Amarù, die mit wunderbarem Material und stilistischer Sicherheit vergessen ließ, dass ihre weiblichen Maße nicht immer ihrer Hosenrolle entsprachen. Ihr untreuer Verlobter fand mit  Francesca Aspromonte eine nicht nur szenisch überaus überzeugende Darstellung, sondern auch auf der musikalischen Seite eine ihren Part quasi mit Nonchalance singende Interpretin. Dieses Paar findet am Ende natürlich wieder zusammen, ebenso wie die darstellerisch und gesanglich höchst bewegliche Francesca Pia Vitale (Ciomma, Kurzform von Girolama), ein wahres Energiebündel, u.a. auch aus der Accademia della Scala hervorgegangen, mit Titta (Kurzform von Battista), beweglich verkörpert von dem Counter Filippo Mineccia, der die von allen Angehimmelte schließlich „bekommt“, nachdem ihr klar geworden ist, dass ihre Faszination dem in Wahrheit weiblichen Carlo gegolten hatte. Zum Brüllen komisch war der Tenor Alberto Allegrezza als Meneca (Kurzform von Domenica), der sich keinerlei billiger Gags bediente und mit Verve die lüsterne Alte spielte, ohne die Figur je zu diskriminieren. Der Barbier Col’Agnolo (Kurzform von Nicolangelo), ihr männliches Gegenstück als ältlicher Verehrer Ciommas, wurde von Antonino Siragusa mit merkbarem Spaß an der Sache gesungen  Besonders köstlich auch Marco Filippo Romano als der Ehe abholder Koch Rapisto, den er mit einer stets reichen Bassbuffo-Stimme verkörperte. Ein wahres Juwel war Raffaele Pe als Cicariello (Kurzform für Francesco): Der Countertenor wieselte wie ein enthemmter Arlecchino durch die Komödie, wobei seine gesangliche Leistung der Qualität der darstellerischen entsprach. Die Studierenden der Accademia della Scala Matías Moncada (Bass)und Fan Zhou(Sopran) gaben zufriedenstellend zwei Sklaven.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Diese tauchen auf, als Federico Mariano (Bass), Belluccias Vater und Kapitän des titelgebenden Schiffs schließlich erscheint und nach einigem Hin und Her sein Placet für die Verbindung der jungen Leute gibt. Als einziger bedient er sich des Toskanischen (wie das zukünftige Italienisch im 18. Jahrhundert genannt wurde) und als einziger hat er eine relativ schwierige Arie zu singen, der Filippo Morace leider nicht gewachsen war.

Zuletzt gab es sehr viel Beifall für einen vergnüglichen und musikalisch wertvollen Abend.

Eva Pleus 25. April 2023


Li zite ngalera

Leonardo Vinci

Milano

Premiere am 4. April 2023

Besuchte Vorstellung: 18. April 2023

Inszenierung: Leo Muscato

Bühnenbild: Federica Parolini

Kostüme: Silvia Aymonino

Beleuchtung: Alessandro Verazzi

Musikalische Leitung: Andrea Marcon

Orchestra del Teatro alla Scala auf historischen Instrumenten und La Cetra Barockorchester