Mailand: „Guillaume Tell“, Gioachino Rossini

Nach Cherubinis „Médée“ wurde nun auch Rossinis letzte Oper, jenes Meisterwerk, das für die große romantische Oper eines Donizetti und Bellini das Tor öffnen sollte, erstmals in der ursprünglichen französischen Fassung an diesem Haus aufgeführt. In der Vergangenheit wurde das Werk nicht nur in italienischer Übersetzung, sondern aus Gründen der Zensur auch mit verschiedenen Titeln gegeben, wie etwa Vallace.

© Brescia&Amisano

Diese Oper benötigte für das Libretto zwei offizielle und zwei weitere inoffizielle Autoren, denen es allerdings nicht gelungen ist, der Handlung Dramatik zu verleihen, denn mit Ausnahme des Rütlischwurs geschehen die treibenden Momente nicht direkt auf der Bühne, und es braucht seine Zeit bis der zögerliche Tell zur endgültigen Entscheidung kommt, um das Joch der Habsburger abzuschütteln und dessen Inkarnation Gesler zu ermorden. (Es ist interessant, zu beobachten, wie die Librettisten die von Schiller verwendeten Eigennamen zurechtbogen, um deren Aussprache im Französischen zu erleichtern: Nicht nur Gessler verlor ein „s“, sondern Melchthal ein „h“, Küssnacht wurde zu Kusnac und aus Schwyz wurde Schwitz). Doch nicht nur die reine Länge von 225 Minuten Musik steht einer häufigeren Begegnung mit dem Werk im Wege, sondern auch die Schwierigkeit der Rolle des Tenors. Bei der Uraufführung sang Adolphe Nourrit, ein besonderer Könner auf dem Gebiet der voix mixte, den Arnold Melcthal, aber nicht viel später triumphierte Gilbert-Louis Duprez, indem er auch die besonders exponierten hohen Töne mit Bruststimme sang. Rossini hasste das, aber die Entwicklung war nicht mehr aufzuhalten. So hat sich so mancher Tenor im 20. Jahrhundert die Stimme ruiniert, weil die Höhen eben für einen haut-contre gedacht waren, nicht für einen mit Gewalt stemmenden Kraftlackel. Eine weitere Frage ist, ob die Titelrolle mit einem Bass oder einem Bariton besetzt werden soll. In der letzten Produktion vor der hier besprochenen hatte sich Riccardo Muti für den Bariton Giorgio Zancanaro entschieden, diesmal sang der vom Rossini-Spezialisten Michele Mariotti vehement begehrte Bass Michele Pertusi. Damit steht er nicht allein da, denn auch ein Nicola Rossi-Lemeni hat sich der Partie angenommen, um nur ein Beispiel zu geben.

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Gegeben wurde die strichlose Fassung, wenn man von zwei kurzen Stellen in den Ballettszenen und der Arie von Tells Sohn Jemmy absieht (letztere hätte ich eigentlich gerne gehört). Das sonst fast immer gestrichene Terzett der drei Frauenstimmen (Mathilde, Hedwige, Jemmy) im 4. Akt wurde hingegen als für das musikalisch Gleichgewicht unabdingbar gesehen. Richtig populär sind die Ouverture und die Schlussapotheose geworden, aber vom meditativen Beginn mit dem Cellosolo an lässt Rossini den Hörer eine gewisse traurige Fröhlichkeit oder heitere Melancholie erleben, zusammen mit den so stark vertretenen Impressionen aus der Natur.

Mit dem Stichwort ‚Natur‘ wären wir nun bei der Regie, und hier lieferte Chiara Muti leider eine Kopfgeburt. Die an der Scala mit diesem wahrlich nicht leicht zu inszenierenden Werk debütierende Künstlerin (und Tochter eines berühmten Vaters) überfrachtete die Handlung mit intellektuellen Überlegungen, wobei sie sich am berühmten „Metropolis“ aus 1927 von Fritz Lang inspirierte. Die Schweizer sind für sie eine Masse, die nicht denken kann und sich untereinander nur per Tablet (in dem die vier Elemente gefangen sind) verständigt. Diese „soziale Nachtwandlerei“ (O-Ton Regisseurin) zwingt den Zuschauer, ein bis wenige Minuten vor dem Schluss grau-schwarzes Bühnenbild (Alessandro Camera) zu sehen, in dem sich in ebensolche Farben gekleidete Figuren tummeln, wie man sie sich in Nordkorea erwarten würde (Kostüme: Ursula Patzak). Dazu ist Gesler nicht einfach nur böse, sondern wird (in purpurroter Robe) zum Symbol des Bösen an sich stilisiert, was nicht so schlimm wäre, würde er nicht auch von die sieben Todsünden verkörpernden Figuren begleitet (deren Bedeutung auch erst klar wird, wenn man sich in die Erklärungen der Regisseurin im Programmheft vertieft). Als weiteres biblisches Symbol ist der verdorrte Lebensbaum (samt Schlange) zu sehen, der im Schlussbild verschwindet (was wegen der Umbauten zu einer dritten, ermüdenden Pause zwischen 3. Und 4. Akt führt). Die wenig zur Musik passende Choreographie von Silvia Giordano wurde auch in dieser vierten Vorstellung noch kräftig ausgebuht (ein Zuschauer machte sich u.a. auch mit einem lauten „Orrore“ Luft), nachdem bei der Premiere das gesamte Team wütenden Missfallenskundgebungen ausgesetzt war.

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Unter diesen bedrückenden optischen Voraussetzungen war es nicht leicht, die Musik zu genießen, obwohl deren Wiedergabe von ausgezeichneter Qualität war. Man könnte über den von Alberto Malazzi einstudierten Chor ebenso in Lobeshymnen ausbrechen wie über die musikalische Leitung von Michele Mariotti, der mit jeder Faser das Orchester des Hauses Rossinis innovativen Stil realisieren, ja geradezu nachleben ließ. Die Titelrolle wurde von Michele Pertusi mit warmer Menschlichkeit erfüllt, wobei die technische Beherrschung der Rolle mit ihren für einen Bass ausnehmend unangenehmen Höhen bewundernswert war. Als Arnold, welche Rolle hinsichtlich der Schwierigkeit auch von Hoffmann oder dem Arturo der „Puritani“ nicht übertroffen wird, brillierte Dmitry Korchak als Nachfolger eines Tamagno (immerhin Verdis erster Otello) oder Lauri-Volpi, der für seine stählernen Spitzentöne bekannt war. Seine den 4. Akt eröffnende Arie „Asile héréditaire“ und vor allem die nachfolgende Cabaletta wurden nicht nur „bezwungen“, sondern auch interpretiert. Als Mathilde sang die gleichfalls an der Scala debütierende Salome Jicia anstelle von Marina Rebeka, die nach zwei Vorstellungen aus der „Médée“ ausgestiegen war und auch diese Produktion abgesagt hatte. Jicia sang technisch sicher und bemühte sich auch um Ausdruck; als Persönlichkeit wirkte sie eher schwach. Den Bässen kommt in dieser Oper viel Gewicht zu: Nahuel Di Pierro war ein nachdrücklicher Walter Furst (noch so eine Namensänderung…), Evgeny Stavinsky ein ausreichend charismatischer alter Melcthal, Luca Tittoto ein autoritär dröhnender Gesler. Als Jemmy war Catherine Trottmann stimmlich und szenisch beweglich. Während der Ruodi von Dave Monaco seine schwierige Canzone zu Beginn der Oper zwar gut bewältigte, aber Glanz vermissen ließ und Brayan Ávila Martinez mit superleichtem Tenor die Bedeutung von Rodolphe, dem Anführer der Habsburger Truppen, vermissen ließ, fiel Paul Grant als flüchtiger Leuthold mit gut geführtem Bariton und lebhaftem Spiel positiv auf. Geraldine Chauvet versuchte erfolgreich, der blassen Rolle der Hedwige Profil zu verleihen.

Ein merklich ermüdetes Publikum spendete dennoch viel Beifall und feierte besonders Michele Mariotti.

Eva Pleus, 27. April 2024


Guillaume Tell
Gioachino Rossini

Teatro alla Scala, Mailand

3. April 2024

Inszenierung: Chiara Muti
Musikalische Leitung: Michele Mariotti
Orchestra del Teatro alla Scala