Giuseppe Verdis bildmächtiges Werk stellt auch große Opernhäuser vor schwierig zu bewältigende Anforderungen. Dafür gibt es zwei Gründe, nämlich einmal die verwirrende Abfolge von Bildern, die als dramaturgisch störend empfunden werden und vor allem Preziosilla und Melitone in den Mittelpunkt stellen; dann die Notwendigkeit, geeignete Interpreten für die so anspruchsvoll geschriebenen Hauptfiguren Alvaro, Leonora und Don Carlo zu finden, doch zusätzlich neben Tenor, Sopran und Bariton auch erste Stimmen im Bassfach (Padre Guardiano) und unter den Mezzosopranen und Bassbaritonen für die zuvor erwähnten relativ kleineren Rollen. Die Scala, die sich erst einmal, nämlich 1965, entschlossen hatte, mit dieser Oper die neue Saison zu eröffnen, ging das Wagnis ein und gewann auf der ganzen Linie.
Ich habe in meinem langen Opernleben zehn verschiedene Produktionen des Werks erlebt, von Verona über Wien, Mailand (3), Marseille, Pisa, Piacenza, Parma, Valencia bis Graz (und auch die St. Petersburger Urfassung mit Alvaros Selbstmord als Gastspiel des Mariinskij), aber keine Regie hat mich so sehr überzeugt wie diese, in der es Leo Muscato gelungen ist, die genannten Massen- und Genreszenen perfekt in die Handlung einzubinden, sodass man sie nicht nur nicht als Störfaktor, sondern als völlig legitim zum großen Ganzen gehörig empfand, wie sich Verdi vermutlich vorschwebte, als er dieses musikalische Riesengemälde schuf.
Federica Parolini hatte eine Drehscheibe entworfen, die nicht nur ideal für die Szenenwechsel war, sondern es dem Regisseur auch erlaubte, die Chormassen entsprechend in Bewegung zu halten und vor allem die in zu dieser Scheibe gegenläufig marschierenden Soldaten zu zeigen. Das Stichwort „Soldaten“: Muscato zeigte die Handlung im ersten Teil zur Zeit der napoleonischen Kriege, verortete den zweiten im Ersten Weltkrieg und den Schlussteil in modernen Zeiten. Dabei ist es ihm gelungen, das Grauen und vor allem die Unsinnigkeit des Kriegs in jedem Moment überzeugend aufzuzeigen, ohne der Handlung etwas ihr Fremdes überzustülpen. Dem entsprachen die sorgfältig entworfenen historischen Uniformen von Silvia Aymonino, deren Kostüme im Übrigen sehr tragbar waren. Die wiederholt zum Krieg auffordernde Preziosilla wird als bedenkenlose Type gezeigt, die schließlich auch zum Opfer wird: In der letzten Szene ragt ihr knallrotes Haar aus einem Leichensack hervor. Die Figur des Melitone durchzieht die Handlung als Militärkaplan und gewinnt dadurch neben seiner kaustischen auch eine humane Seite. Besonders gelungen auch die Szene, in der zur Ballettmusik üblicherweise graziöse Tänzer ihre Pirouetten machen, denn hier betrinkt sich die Menge, ob Soldaten oder Volk (Choreographie: Michela Lucenti), wodurch verständlicherweise Melitones Moralpredigt provoziert wird. Eine für mich wahrhaft fehlerlose Inszenierung, bei der es auch die Freude gab, an geeigneter Stelle (erste Szene oder Leonoras Ankunft vor dem Kloster) grün beblätterte Bäume zu sehen, was ja im verordneten Grau in Grau der letzten Jahre zur Seltenheit geworden ist.
Dazu konnte die Scala eine Großteils imposante Sängerriege präsentieren. Anna Netrebko war eine weniger engelsgleiche als entschiedene, starke Leonora. Stark in ihrem Entschluss, das Vaterhaus zu verlassen, ebenso stark in ihrer Hinwendung zu ewiger Buße. Stimmlich an diesem Abend in Bestform, gelang ihr ein übernatürlich schönes „La vergine degli angeli“ (auch dieses Bild war von der Regie her von besonderer Feierlichkeit) und eine geradezu erschreckend intensive „Pace“-Arie. Luciano Ganci war ihr ein Alvaro auf Augenhöhe, der nicht nur prachtvoll sang und keinen Spitzenton fürchtete, sondern in jeder Situation die richtigen Akzente setzte, ob nun gegenüber dem Marchesen di Calatrava, in seiner großen Arie oder den Auseinandersetzungen mit Don Carlo. Dieser wurde von Ludovic Tézier mit prachtvoll ebenmäßigem Bariton gesungen, der in seinen zahlreichen Nuancen dem sturen Verfechter der Rache mehr Farben gab als es die an sich eindimensional ausgerichtete Figur als solche hergibt. Vasilisa Berzhanskaya warf sich als freche Preziosilla voll in die Rolle (die sie aber nicht zu oft singen sollte) und schenkte der jungen Zigeunerin ihren hellen, durchschlagskräftigen Mezzo. Ein Kabinettstück lieferte einmal mehr Marco Filippo Romano als Melitone, dem er alle Facetten zwischen verständlichem Zorn bei der Suppenverteilung an die Armen (hier ging es um Wasser, das in Kanistern fortgeschleppt wurde) und Aufbegehren gegen die Geheimnisse des Padre Guardiano verlieh – all dies mit wohltimbriertem Bariton. An die Stelle des ursprünglich vorgesehenen Ildar Abdrazakov, der sich leider ganz offen auf Putins Seite gestellt hat und in Europa nicht mehr auftritt, war Alexander Vinogradov als stimmlich etwas leichtgewichtiger Guardiano mit schwerem russischem Akzent getreten, der aber der von Verdi verlangten Expressivität entsprach. Mit Ausnahme von Fabrizio Beggi, einem allzu knarrend klingenden Marchese di Calatrava, waren die Kleinrollen vorzüglich besetzt: Marcela Rahal (Brasilien) als heftig auf die Flucht drängende Curra, Huanhong Li (China) als stimmlich imposanter Alkalde, der Veteran Carlo Bosi als eindrücklicher Trabuco und besonders Xhieldo Hyseni (Albanien) aus der Accademia della Scala als sehr schönstimmiger Chirurg mit einigen sonst gestrichenen Beiträgen.
Ja, die Striche: Unter der Leitung von Riccardo Chailly war natürlich auch der fast immer gestrichene Chor im Lager von Velletri zu hören, den Verdi für die Mailänder Fassung mit dem Aufruf des Padre Guardiano an Alvaro, sich in sein Schicksal zu fügen, geschrieben hatte und der auch dramaturgisch sinnvoll Carlos große Rachearie vom Duett mit seiner Aufforderung zum Duell trennt, sodass Alvaro Zeit für die Genesung von seiner Verwundung hatte. Auch in Carlos „Urna fatale“ gab es ein paar hörenswerte Takte mehr, zu denen im Programmheft aber nichts zu lesen war (kritische Ausgabe Gossett/Holmes, noch nicht erschienen). Nach einer recht lärmenden Ouverture dirigierte Chailly mit Präzision und Hingabe, und das Orchester des Hauses folgte ihm bedingungslos. Ein wenig Erdenschwere bleibt bei diesem Dirigenten allerdings fast immer. Der Chor des Hauses unter Alberto Malazzi brillierte einmal mehr, ob als Mönche, Soldaten oder Volk.
Eine Produktion auf der Höhe des künstlerischen Anspruchs der Scala, die entsprechend gefeiert wurde.
Eva Pleus, 29. Dezember 2024
PS: Ich habe die Fernsehübertragung der Eröffnung im Fernsehen gesehen und wurde einmal mehr bestärkt in meiner Ansicht, dass der für den absagenden Jonas Kaufmann geholte Brian Jadge absolut überbewertet ist, denn Expressivität und Phrasierung lassen mehr als zu wünschen übrig. Ich war daher glücklich darüber, dass er in der von mir besuchten Vorstellung von dem für die letzten beiden Vorstellungen vorgesehenen Luciano Ganci ersetzt wurde.
La forza del destino
Giuseppe Verdi
Teatro alla Scala
Besuchte Vorstellung: 6. Dezember 2024
Premiere: 7. Dezember 2024
Inszenierung: Leo Muscato
Musikalische Leitung: Riccardo Chailly
Orchestra del Teatro alla Scala