Mailand: „Lucia di Lammermoor“, Gaetano Donizetti

Die Produktion von Gaetano Donizettis Meisterwerk war für die Eröffnung der Spielzeit 2020 vorgesehen gewesen und dem von der COV 19-Epidemie verursachten Lockdown zum Opfer gefallen. Nun wurde sie in der laufenden Saison in der von Riccardo Chailly gewünschten Fassung nachgeholt.

„Von Chailly gewünscht“ bedeutet eine Aufführung ohne jeglichen Strich. Dem zufolge waren Szene und Duett Raimondo/Lucia nach der Szene Enrico/Lucia im 2. Akt zu hören, was der Dramaturgie der Oper nur guttun kann; weiters das musikalisch kostbare sogenannte Turmduett Enrico/Edgardo zu Beginn des 3. Akts, das vor nicht allzu langer Zeit nur selten gespielt wurde. Hingegen war auch eine kurze, vom Autor selbst verworfene, Szene gleich nach Lucias Wahnsinnsszene, in der Raimondo die Schuld an den tragischen Ereignissen auf Normanno abwälzt, wieder in das Werk eingegliedert worden – ein echter Antiklimax.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Diese mehr der Philologie denn der Theatralik verpflichteten Entscheidungen betreffen auch die berühmte Kadenz in eben der Wahnsinnsszene. Forschungen haben ergeben, dass die vom Publikum ab Ende des 19. Jahrhunderts bis heute geliebte Kadenz nicht von Donizetti stammt, sondern von der Lehrerin der berühmten Nellie Melba, die sie für ihre Schülerin geschrieben hatte. Zum Einsatz der Glasharmonika (die vom Komponisten für die Uraufführung vorgesehen war, aber wegen eines Streits von deren Spieler mit dem Teatro San Carlo nicht zur Verwendung kam, weshalb Donizetti sie durch eine Flöte ersetzen musste) mit ihrem wahrhaft gespenstischen Klang kam also eine stark vereinfachte Kadenz.

Diese wissenschaftliche Sicht auf das Werk hat für mein Gefühl auch Chaillys Dirigat beeinflusst, denn man hörte eine minutiöse Detailarbeit, die (trotz zahlreicher wunderbaren Eindrücke, wie etwa der satte Gesang der Cellos) zu Lasten einer einheitlichen Erzählung eines Werks, das ich als „romantische Ballade“ bezeichnen würde, ging. Es steht aber außer Zweifel, dass die Schönheit der Musik unter dieser Leitung vom Orchester des Hauses voll zum Erblühen gebracht wurde. Einmal mehr gewaltig war die Leistung des von Alberto Malazzi einstudierten Chores.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

In der Titelrolle brillierte Lisette Oropesa, für die es keinerlei technische Schwierigkeiten zu geben scheint, und die den perlenden Kaskaden ihrer Koloraturen den nötigen Ausdruck verlieh, sie nie zur reinen Vorführung ihrer stimmlichen Qualitäten missbrauchte. Auch darstellerisch ging sie voll in ihrer Rolle auf. Dennoch bleibt für mich als Publikum immer eine winzige Distanz, hervorgerufen vielleicht durch diese wie unberührbare Vollkommenheit. In Juan Diego Flórez hatte sie einen Partner, der in dieser Rolle nicht auf Augenhöhe mit ihr stand. Der Künstler phrasiert und artikuliert vorbildlich, die Stimme wird perfekt projiziert, sodass sie den weiträumigen Saal mühelos füllt. Das Problem liegt darin, dass der Tenor von Flórez nicht die Farben für eine Rolle wie den Edgardo besitzt, sodass sein Gesang immer wieder monoton klingt (und in der Szene seines Fluchs trotz der hervorragenden Technik untergeht). Die letzte Arie war feinst ziseliert vorgetragen, aber zu berühren vermochte sie nicht. Unter diesen Voraussetzungen litt auch das Turmduett, weil die Stimmen nicht zueinander passten. Dazu war der an der Scala debütierende Boris Pinkhasovich ein dem Belcanto wenig verpflichteter Ashton, der ein paar veristische Ausrufe nicht scheute. Sein Bariton ist von guter, aber nicht herausragender Qualität. Wunderbaren Gesang hörte man hingegen von Michele Pertusi als Raimondo, der aus der musikalisch am wenigsten inspirierten erwähnten Szene mit Lucia reinen Genuss machte. Nicht umsonst wurde er beim Schlussvorhang mehr gefeiert als der Bariton (angesichts der jeweiligen Rolle eine absolute Seltenheit). Leonardo Cortellazzi wertete die undankbare Rolle des Arturo durch starke szenische Präsenz auf. Der Normanno von Giorgio Misseri war stimmlich wie im Auftreten stark umrissen, und die Alisa der an der Accademia della Scala studierenden Valentina Pluzhnikova gab zu schönen Hoffnungen Anlass.

(c) Brescia&Amisano / Teatro alla Scala

Für Regie, Bühnenbild und Kostüme war Yannis Kokkos verantwortlich, bei dem man weiß, dass er Opernhandlungen getreu dem Libretto auf die Bühne bringt. Es ist ihm gelungen, die bedrückende Atmosphäre des Werks wiederzugeben, ohne alles in Grau zu hüllen. Beeindruckend der Wald im ersten Bild, der Brunnen, an dem Lucia ihre Auftrittsarie singt, in Form einer hingegossenen Frau. Später leicht verschiebbare rote Trennwände und ein gespenstisches Ambiente für den Friedhof im letzten Bild. (Vorgesehen war übrigens nur eine Pause nach dem zweiten Akt, aber schließlich wurden es doch zwei Pausen – angeblich hatte die Gewerkschaft eine zu lange ununterbrochene Arbeit der Bühnenarbeiter moniert).

Jubel und Beifall am Schluss, aber von nicht allzu langer Dauer.

Eva Pleus 22. April 2023


Lucia di Lammermoor

Gaetano Donizetti

Milano

Premiere am 13. April 2023

Besuchte Vorstellung: 16. April 2023

Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme: Yannis Kokkos

Chorleitung: Alberto Malazzi

Musikalische Leitung: Riccardo Chailly

Orchestra del Teatro alla Scala