Streaming aus dem Teatro Donizetti
Auch die umfangreiche Planung des Festival 2020 fiel zu einem Großteil den dem Coronavirus geschuldeten Schutzmaßnahmen zum Opfer, und nachdem auch Theater und Opernhäuser geschlossen worden waren, mussten der künstlerische Leiter Francesco Micheli und sein Team auf das Fernsehen ausweichen Einen Titel („Marin Faliero“) konnte man auf dem Kultursender RAI 5 und im Streaming sehen, die anderen beiden nur als Bezahlstreaming (wobei schon im Voraus gekaufte Karten gegenverrechnet wurden). Für Fachjournalisten wurde die Linie freigeschaltet, sodass nun dieser Bericht folgen kann.
Am 20.11. wurde MARINO FALIERO übertragen, von dem Bergamasker Meister 1835 (also im selben Jahr wie „Lucia di Lammermoor“) für Paris geschrieben und mit der gleichen Traumbesetzung (Rubini, Grisi, Lablache, Tamburini) wie die für Bellinis kurz davor uraufgeführte „Puritani“. Es mag wohl auch an der nicht immer glücklichen Verflechtung der politischen mit der amourösen Handlung des Librettos von Giovanni Emanuele Bidera (seinerseits basierend auf Lord Byron und Delavigne) gelegen sein, dass sich der Publikumserfolg nicht mit jenem von Bellinis Werk messen konnte.
Diese erste Oper um das Schicksal des historischen venezianischen Dogen Faliero, der als einziger der langen Reihe von Stadtoberhäuptern 1355 wegen Hochverrats zum Tod durch das Beil verurteilt worden ist, schlägt wohl so etwas wie einen düsteren Kammerton an, dem Verdi mit den „Foscari“ und „Simon Boccanegra“ folgte. Die politische Handlung erzählt von der Verschwörung des Dogen (Bass) gemeinsam mit Israele Bertucci, dem Haupt des Arsenals (Bariton), gegen den allmächtigen Rat der Zehn, die private von der Liebe, die Falieros Gattin Elena (Sopran) zu dessen Neffen Fernando (Tenor) hegt. Es ist zum ersten Mal, dass Donizetti die zentrale und Titelrolle einem Vertreter der tiefen Stimmlage anvertraut, auch hier die großen Baritonrollen Verdis vorwegnehmend.
Wie schon im Vorjahr bei „L’ange de Nisida“ spielte sich die Handlung im Parkett des Hauses ab. Marco Rossi hatte ein aufwendiges Metallgerüst entworfen, das in seinen vielen Varianten die Solisten zum Herumklettern zwang. Zunächst war dies ein sehr überzeugender Eindruck von Venedigs verwinkelten Gässchen und der bedrohlichen Atmosphäre, wo überall ein Meuchelmörder lauern konnte. Á la longue war dieses Geklettere aber ermüdend, um so mehr als es zahlreiche stumme Mitwirkende gab, die behände immer neue Turnübungen zeigten, dabei zeitweise auch Echsen- bzw. Polypenmasken tragend (dafür verantwortlich: Marta Bevilacqua). Diese ganzen Bewegungen waren sicherlich sehr schwer zu filmen, und auf dem Bildschirm konnte man leicht die Orientierung und den Handlungsfaden verlieren. Keine Hilfe waren die in allen Stoff- und Musterarten entworfenen Kostüme von Gianluca Sbicca (erwähnt seien nur die den Tenor nicht unbedingt schmückende Baseballkappe, die Mischung von Gelb, Grün und Violett beim Anzug des Baritons, die in der Form kitschiger Broschen auf Falieros Militärmantel angebrachten Orden, Elenas grüne Strümpfe zu blauen Schuhen und ihre orangen Haushaltsgummihandschuhe [alle Mitwirkenden trugen der Covid-Gefahr geschuldete Handschuhe, aber auf das Wie kommt es an]).
Das Projekt lag in den Händen von ricci/forte, die Regie hatte, wie immer bei diesem Duo, Stefano Ricci übernommen. Kann aber von einer echten Regieführung überhaupt gesprochen werden? Oder sollte die Tatsache, dass die Protagonisten wiederholt mittels dünner Stricke wie Marionetten gehandhabt wurden, auf die Unentrinnbarkeit ihres Schicksals verweisen? In meinen Augen wäre das so hanebüchen wie billig. Als überzeugende Rollenvertreter kamen nur die Künstler herüber, die eine persönliche Ausstrahlung hatten, und das waren nur Michele Pertusi in der Titelrolle, Francesca Dotto (Elena) und der Bariton Christian Federici (Steno, eine wichtige Nebenrolle als Intrigant).
Doch genug der Beschreibung visueller Eindrücke, denn der musikalische Teil konnte mit einer Ausnahme als sehr geglückt angesehen werden. Bewundernswert die Leistung des Musikdirektors des Festivals Riccardo Frizza, der das Orchestra Donizetti Opera zusammenhalten musste, befanden sich doch die Bläser isoliert zwischen zwei Plexiglaswänden und noch weiter dahinter (auf dem Bildschirm gar nicht sichtbar) der Coro Donizetti Opera, bestens einstudiert von Fabio Tartari. Rizza gelang aber viel mehr als eine ordentliche Wiedergabe, denn seine Interpretation unterstrich die Bedeutung Donizettis für den jungen Verdi (dessen erste Oper 1839, also drei Jahre nach „Marin Faliero“, erscheinen sollte). Das Duett der Verschwörer Faliero/Israele erinnert beispielsweise stark an das zwischen Attila und Ezio. Seine musikdramatische Qualität wird das Werk hoffentlich zurück ins Repertoire führen (ich konnte es erst einmal, 2002 in Parma, hören).
In der Titelrolle war Michele Pertusi einfach überragend und zeichnete mit samtweichem, nie forcierten Bass die Herrschergeste des erfahrenen Politikers ebenso wie die persönliche Tragödie des betrogenen Ehemannes, der aber vor der Hinrichtung verzeihende Worte für seine untreue Gemahlin findet. Diese wurde von Francesca Dotto schönstimmig gesungen. In ihrer großen Schlussszene ließ sie dramatische Koloratur vom Feinsten hören – es war, wie mehrmals an diesem Abend ein Moment, der vehementen Applaus geradezu herausgefordert hätte. Der rumänische Bariton Bogdan Baciu zeigte als Israele eine gute Leistung, doch schien mir sein Material etwas zu leichtgewichtig für die Rolle. Der amerikanische Tenor Michele Angelini war als Ersatz für den erkrankten Javier Camarena berufen worden, weshalb man nicht zu streng mit ihm sein sollte. Er erwies sich allerdings als ausgesprochenes stimmliches Leichtgewicht, dem die Rolle mindestens eine Nummer zu groß war. Besser hätte darin vermutlich Giorgio Misseri gewirkt, der zu Beginn des 3. Akts sehr schön das Lied eines Gondoliere sang. Auf den (auch stimmlich nachdrücklichen) Steno des Baritons Christian Federici wurde bereits hingewiesen. Erwähnt seien noch der Tenor Dave Monaco (Leoni, ein Patrizier) und Stefano Gentili (Beltrame, Bildhauer).
Am 21.11. wurde BELISARIO ausgestrahlt, 1836 im Jahr nach „Lucia di Lammermoor“ komponiert. Auch die Musik dieser Oper lässt unmittelbar an Verdi denken und zeigt neben mitreißenden Chören und bezwingend rhythmischen cabalette viel musikdramatisch Neues, etwa in Belisarios Erzählung von einem Traum, die mit ihren abgerissenen Phrasen weit über routinemäßiges Komponieren hinausreicht. Man darf sich nicht in geschichtlichen „Wenn“-Fragen verlieren, aber der Gedanke drängt sich auf: In welchem Verhältnis wären Verdi und Donizetti gestanden, wäre der Bergamasker nicht 1848 verstorben (und hätte seine Produktion krankheitsbedingt nicht schon 1843, dem Jahr von Verdis „Lombardi“, eingestellt).
In der Handlung geht es um den historischen Feldherrn Belisar (der Komponist hatte sich wie schon bei „Marin Faliero“ mit einem Bariton neuerlich für einen Vertreter der tieferen Stimmlage als Protagonisten entschieden) im Dienst von Konstantinopel, der von seiner Gattin Antonina (Sopran) des Hochverrats bezichtigt und daraufhin von Kaiser Justinian (Bass) mit Schimpf und Schande verjagt wird, nicht ohne ihn vorher blenden zu lassen. Antoninas Begründung ihrer Intrige ist, dass Belisario ihren gemeinsamen Sohn als Kleinkind aussetzen ließ, weil ihm vorhergesagt worden war, dieser (Alamiro, Tenor) würde dem oströmischen Reich schaden. Wie immer in solchen Fällen wurde das Baby nicht getötet, sondern von einem Außenstehenden aufgezogen. Treu zum Vater hält Irene (Mezzo), die mit dem blinden Mann in die Verbannung gehen will und auch das Geheimnis um Alamiro aufdeckt. Antoninas Reue kommt zu spät, denn Belisario stirbt nach seiner Rehabilitierung. Interessant ist, dass eigentlich Irene die weibliche Hauptfigur sein sollte, doch schrieb Donizetti für die berühmte Sängerin Karoline Unger (in Italien Carolina Ungher), die für die Antonina verpflichtet worden war, eine große Arie im 3. Akt. Das Ungleichgewicht bleibt, denn die Figur tritt nach ihrer Anklage im ersten Akt erst im dritten wieder auf (Libretto: Salvatore Cammarano).
Die Aufführung fand konzertant stand, was Gelegenheit gab, das renovierte Opernhaus zu bewundern (der Titel war für die Neueröffnung vorgesehen gewesen). Riccardo Rizza sah sich neuerlich zwei Fronten gegenüber: Die Sänger hinter ihm, das Orchester vor ihm (die Bläser wieder zwischen Plexiglaswänden) und dahinter der Chor, der mit Masken sang. Auch hier kann wieder bestätigt werden, dass nicht nur der Einsatz aller bewundernswert war, sondern vor allem auch das Ergebnis ihnen zur Ehre gereichte, denn auch diesmal war durch die Qualität der Wiedergabe klar, dass auch dieses Werk in die immer mehr verarmenden Spielpläne der Opernhäuser gehören würde (auch dieses habe ich nur einmal gehört, und zwar im fernen 1970 in Bergamo).
Gesungen wurde, mit ein paar Abstrichen für den Sopran, ausgezeichnet. Carmela Remigio schenkte ihrer Antonina dramatische Intensität, aber es war nicht zu leugnen, dass ihre solide Stimme den technischen Anforderungen der Rolle nur bedingt gewachsen war. Die Titelrolle fand in Roberto Frontali (der den absagenden Domingo ersetzte) einen hervorragenden Vertreter. Die Stimme ist nach 30-jähriger Karriere noch voll intakt, und ich habe diesen Künstler selten so expressiv gehört. Ihm zur Seite die wunderbare Irene von Annalisa Stroppa, die ihren schönen Mezzo in reinster Belcantokultur führte. Einer der Höhepunkte war das große Duett Belisario/Irene, das in seiner Ausschließlichkeit der Liebe Vater/Tochter an „Andrem raminghi e poveri“ aus der „Luisa Miller“ erinnert. Nach leicht zögerlichem Beginn war Celso Albelo ein ausgezeichneter Alamiro mit robusten Höhen und einem imposanten sovracuto, aber auch wunderschönen Piani. Giustiniano wurde von Simon Lim mit dröhnender Autorität verkörpert. Eutropio, Antoninas Werkzeug für ihre Intrige, sang mit durchdringendem Material der albanische Tenor Klodjan Kacani.
Auch bei dieser Vorstellung hätte ich sehr oft gerne applaudiert…
Als dritte und letzte Produktion war LE NOZZE IN VILLA zu sehen, Gaetano Donizettis drittes Werk für die Opernbühne, das im Rahmen von Donizetti200 gegeben wurde. Dieses Projekt nimmt sich vor, alljährlich beim Festival ein im betreffenden Jahr 200 Jahre alt gewordenes Werk des Komponisten aus Bergamo zu zeigen. Das dramma buffo ist nicht als Autograph, sondern nur in Kopie auf die Nachwelt gekommen. Es gibt auch keine direkten Kommentare über die Uraufführung 1819 in Mantua, die enttäuschend verlief und damit zu Donizettis erstem Fiasko wurde. Auch über eine eventuelle Umarbeitung und Aufführung 1820 in Treviso ist nichts Näheres bekannt.
Das Libretto stammt von dem Bergamasker Impresario Bartolomeo Merelli (1794-1879), der in letzterer Eigenschaft viel für Verdi getan hat. Es beruht auf einer Komödie aus 1803 von August von Kotzebue, die in der italienischen Übersetzung „I provinciali“ heiß („Villa“ bedeutet im altertümlichen Sprachgebrauch nämlich „Dorf“, also im übertragenen Sinn „Provinz“). Die Handlung bewegt sich in den üblichen Bahnen um einen tyrannischen Vater (Don Petronio, Buffo), der seine Tochter (Sabina, Mezzo) mit einem eitlen Langweiler (Trifoglio, Buffo) verheiraten will. Nach verschiedenen Verwicklungen darf Claudio (Tenor) dann die Geliebte heiraten.
Die Musik ist natürlich stark von Rossini beeinflusst, es gibt die typischen crescendi, aber auch das für den Meister aus Pesaro bezeichnende Einsetzen einer Stimme nach der anderen in Terzetten und Ensembleszenen. Die Arie der Großmutter Anastasia (Mezzo) erinnert ganz stark an die der Berta im „Barbier von Sevilla“. Ein Studienkollege Donizettis berichtet übrigens von der Überzeugung des Komponisten, man müsse, um dem Publikumsgeschmack entgegenzukommen und sich einen Namen zu machen, zunächst wie Rossini schreiben, um sich erst später davon freizumachen. Ein verlorengegangenes Quintett im 2. Teil wurde von Enrico Melozzi in Zusammenarbeit mit Elio und Rocco Tanica stilistisch perfekt nachkomponiert.
Sehr gelungen war die wieder im Parkett des Opernhauses angesiedelte Regie von Davide Maranchelli (Bühne: Anna Bonomelli, Kostüme: Linda Riccardi, Lighting design: Alessandro Carletti), die das Geschehen in eine moderne Welt verlegt, in der Hochzeiten von weddingplaners ausgerichtet werden, mit köstlichen Seitenhieben auf Geschmacklosigkeiten wie das Ablichten eines Brautpaars, das sich die Porträts von Prinz Harry und Meghan Markle vors Gesicht hält. Die turbulente Handlung stockt nicht einen Moment, die eingesetzten Mimen wirken ausnahmsweise einmal nicht störend, sondern fügen sich perfekt ein. Wer gerade nicht singt, setzt sich die Maske wieder auf, und sogar diese Geste wirkt ganz natürlich.
Bestens gewählt war die Sängerbesetzung: Gaia Petrone (Sabina) führte ihren schönen Mezzo bruchlos mit ausgezeichneter Technik und überzeugte sofort mit ihrer koloraturgespickten Auftrittsarie, der ihre das Werk beschließende Arie in Bezug auf Schwierigkeit in nichts nachsteht. Dazu spielte sie überzeugend ein unbekümmertes junges Ding, das auch elegant aufzutreten wusste. Ihr geliebter Claudio stand ihr nicht nach, denn auch diese Rolle wurde von Giorgio Misseri mit großer Sicherheit bewältigt. Auch er war ab seiner schwierigen Auftrittsarie stimmlich gleich ganz präsent (erheiternd in Hawaiihemd, Bermudas und Flip-Flops) und attackierte im 2. Teil mit furchtlosen sovracuti. Ausgezeichnet auch die beiden Buffi: Omar Montanari als düpierter Bürgermeister (und Sabinas Vater) besitzt den saftigeren Bass als Fabio Capitanucci, der gleichwohl zu gefallen wusste. Beide waren außerdem ausgesprochen beweglich, ohne ihre Figuren zu reinen Karikaturen zu verzerren. In der Rolle der besorgten Großmutter war Manuela Custer zu hören, Claudia Urru ergänzte die Ensembles in der kleinen Rolle der Rosaura. Das Orchester mit historischen Instrumenten Gli Originali wurde von Stefano Montanari, der auch am Fortepiano tätig war, schwungvoll geleitet; der von Fabio Tartari einstudierte kleine Chor war wieder hinter dem Orchester untergebracht.
Francesco Micheli und sein Team haben jedenfalls allen Schwierigkeiten zum Trotz ein hochinteressantes Programm geboten, und wir halten die Daumen, dass wir nächstes Jahr wieder nach Herzenslust applaudieren dürfen.
Eva Pleus 26.11.20