Live von der Baustelle und erstmals überhaupt szenisch
Premiere: 16.11.2019
besuchte Vorstellung: 21.11.2019
Lieber Opernfreund-Freund,
beim alljährlich stattfindenden Donizetti-Festival sind immer wieder nahezu nie gehörte Werke des aus Bergamo stammenden Maestro zu erleben – und dieses Jahr wartet die Fondazione Teatro Donizetti sogar mit einer veritablen szenischen Erstaufführung auf: L’Ange de Nisida, 1839 entstanden, wurde noch nie auf einer Bühne gezeigt, die konzertante Uraufführung fand im Juli 2018 in London statt. Und auf der Bühne im eigentlichen Sinne war auch gestern nichts zu sehen außer einer Zuschauertribüne – denn das Teatro Donizetti in der Citta Bassa von Bergamo wird seit gut zwei Jahren umfassend saniert und ist derzeit eine Baustelle. Doch man hat aus der Not einfach eine Tugend gemacht – und dabei einen sensationellen Opernabend präsentiert.
Die Finalphase der Entstehung des Werkes, das Donizetti 1839 für das Théâtre de la Renaissance geschrieben hatte, stand unter keinem guten Stern und während der Proben gab es dermaßen viele Reibereien, dass die Premiere kurzerhand gänzlich abgesagt wurde. Donizetti hat dann seine nahezu fertig gestellte Komposition keiner finalen Überarbeitung mehr unterzogen und sie mehr oder weniger ganz in La Favorite aufgehen lassen, die 1840 uraufgeführt wurde, damit die Arbeit nicht ganz umsonst war. Die italienische Musikwissenschaftlerin Candida Mantica hat nun aus der Favoritin das Ursprungswerk gewissermaßen wieder extrahiert und finalisiert, so dass die Oper vor zwei Jahren zur posthumen Uraufführung kam. Sie behandelt die Geschichte von Sylvia, der man auf der Insel Nisida wie einem Engel huldigt. Sie war dorthin gekommen, nachdem der König um sie geworben hatte, in Erwartung ihn zu heiraten – er behielt sie allerdings lediglich als Mätresse. Der auf Nisida gestrandete geflüchtete Leone verliebt sich in sie, doch sie drängt ihn abzureisen, obwohl sie seine Gefühle erwidert. Er aber will bleiben; also erreicht Sylvia beim König eine Begnadigung für Leone. Doch als der König von einem Mönch die wahre Identität Leones und die Hintergründe für Sylvias Bitten enthüllt werden, verstößt er beide. Da interveniert Don Gaspar, Kammerherr des Königs, damit der eifersüchtige Monarch einer Eheschließung von Leone und Sylvia zustimmt. Doch als Leone erfährt, dass Sylvia des Königs Mätresse war, verstößt er sie und geht ins Kloster. Dort besucht ihn eine geschwächte Sylvia und bittet ihn um Vergebung, ehe sie in seinen Armen stirbt.
Die Gemengelage zwischen himmlischer und irdischer Macht, zwischen Klerus und Adel macht der italienische Regisseur Francesco Micheli zum Hauptthema seiner Inszenierung, auch Papier spielt eine große Rolle. Zum einen ist es allgegenwärtiges Medium, da der Chor Handzettel von der Galerie wirft und schon zu Beginn der Aufführung Donizettis Partiturseiten den Boden des Zuschauerraums bedecken – denn dort lässt Micheli die Handlung spielen. Alessandro Andreoli projiziert dazu Landkarten, Notenzitate und sinnfällige Symbolik auf den Boden, den die Zuschauer von insgesamt drei Rängen des an sich fünfrangigen Hauses oder von der Bühne herab betrachten können, und sorgt überdies durch ein stimmungsvolles Lichtkonzept für den optisch richtigen Rahmen. Papier ist auch das Material, aus dem die genialen Kostüme von Margherita Baldoni geschneidert sind, das aus dem Liebhaber den Herrscher und aus der jungen Frau den Engel macht. Aber es ist auch das Material, das der Tarnung dient, das aus dem Klerus Hörigen Adelige werden, was dann mit einem Handstrich enthüllt werden kann. Ein papiernes Kostüm hat sicher etwas überaus Vergängliches an sich, etwas Provisorisches – und wie Francesco Micheli und sein Team den provisorischen Zustand der Spielstätte so in seine Idee mit einfließen lässt, das ist schon große Inszenierungskunst. Dabei verblüfft es immer wieder, mit welch verhältnismäßig einfachen Mitteln – beispielsweise wird ein Lichtquadrat zum Kloster – enorm stimmungsvolle Bilder und eindrucksvolle Effekte entstehen können.
Die beteiligten Sänger sind durch die Bank ebenso exzellent wie die visuelle Umsetzung durch das Regieteam. Florian Sempey zeigt als Don Fernand d’Aragon seinen wuchtigen Bariton und zeichnet mit reichen Farben die Gemütszustände zwischen liebendem, rasendem, machtbesessenen und mildem Herrscher. Roberto Lorenzi mischt seinem klangschönen Bassbariton als Don Gaspar immer wieder ironische Zwischentöne bei und spielt überdies vorzüglich. Federico Benetti weiß als mahnender Mönch mit eindrucksvoller Tiefe zu überzeugen, während mir der klanggewaltige Tenor des aus Südkorea stammenden Konu Kim zu Beginn noch allzu sehr ins Schluchzen abgleitet. Im Laufe des Abends allerdings nuanciert Kim zusehends stärker, gibt eine Spur mehr Leid in seine Stimme und wird so zu Recht zum vom Publikum gefeierten männlichen Hauptdarsteller. Soviel Manpower hat Gaetano Donizetti nur eine einzige Frau gegenübergestellt. Wenn die aber über so viel Kraft, Gefühl und Facettenreichtum wie die junge Russin Lidia Fridman verfügt, braucht es auch nicht mehr. Die Künstlerin ist noch keine 25 Jahre alt, trumpft aber gleich zu Beginn mit dermaßen satter Tiefe auf, dass man bei ihrer zarten, engelsgleichen Gestalt seinen Ohren kaum zu trauen wagt. Sie verfügt über eine feine, ausdrucksstarke Höhe und legt so viel Emotion in ihren koloraturfreudigen Sopran, dass das Zuhören pure Freude ist. Mit Spannung freue ich mich darauf, die künftigen Karriereschritte von Lidia Fridman zu beobachten.
Donizettis Komposition gehört mit Sicherheit nicht zu seinen geschliffensten, doch verströmt sie gewohnten Melodienreichtum, weist herrliche Duette und Ensembles auf und vor allem im Chorpart setzt der Bergamasker Maestro immer wieder – zumindest für seine Zeit – überraschende, ja fast gewagte Harmoniewendungen ein und macht die Damen und Herren des Chores, den Fabio Tartari exquisit auf seinen umfangreichen Part vorbereitet hat, vom Neben- zu einem der Hauptdarsteller. Die Rezitative allerdings geraten mitunter ein wenig uninspiriert und auch die Schlussszene mit nicht zum Ende kommen wollendem Sterbeakt weist durchaus Längen auf. Und doch gelingt es Jean-Luc Tingaud durch sein zupackendes, espritgeladenes Dirigat, keine Sekunde Langeweile aufkommen und aus dem der Bühne ausnahmsweise abgewandten Graben puren Belcanto strömen zu lassen. Dass die Jubelrufe des Publikums angesichts dieser schier perfekt zu nennenden Leistung alelr Beteiligten nicht enden wollen, muss ich, denke ich, nicht erwähnen.
Ich ziehe meine Hut davor, mit welchem Engagement und Ideenreichtum man in Bergamo den widrigen Umständen einer Renovierung des Haupthauses trotzt – manche Opernbaustelle im Rheinland könnte da vielleicht einmal auf Ideenfang gehen – freue mich aber dennoch darauf, Ihnen ab morgen über Lucrezia Borgia und eine weitere Rarität zu berichten (ich möchte den Spannungsbogen noch ein wenig halten), die dann im Teatro Sociale in der Altstadt von Bergamo gezeigt werden.
Die atemberaubenden Fotos stammen von Gianfranco Rota.